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 Foto: Landestheater Detmold / A. T. Schaefer
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Ein starkes Stück Musiktheater – Giselher Klebes „Der jüngste Tag“ in Detmold

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Als deutscher Komponist des 20. Jahrhunderts hat sich Giselher Klebe schon als junger Mann durchaus einen Namen gemacht, erhielt er doch etliche renommierte Preise und war gleich zwei Mal als Stipendiat in der Villa Massimo. 1957 begann er seine Lehrtätigkeit an der damaligen „Nordwestdeutschen Musikakademie“ in Detmold, an der er mehr als 30 Jahre lang wirkte und auch nach seiner Emeritierung als Professor im Jahr 1990 weiterhin etliche Schüler*innen unterrichtete. Die Detmolder Hochschule nicht weniger als das Landestheater Detmold widmen sich immer wieder Klebes Oeuvre. So geriet etwa die Uraufführung der letzten von Klebe vollendeten Oper „Chlestakows Wiederkehr“ (nach Nicolai Gogols Roman „Der Revisor“) im Jahr 2008 zu einem großen Erfolg. Jetzt brachte Regisseur Jan Eßinger die 1980 entstandene Oper „Der jüngste Tag“ heraus.

Es sind nur einige wenige Sekunden, die das Leben von Thomas Hudetz völlig verändern: der Vorsteher einer kleinen Bahnhofsstation verfehlt den Zeitpunkt, ein Signal auf „Rot“ zu stellen, weil er abgelenkt und irritiert ist. Denn Anna hat ihm gerade ganz unvermittelt einen Kuss auf die Lippen gedrückt! Die fatale Folge: der nicht gestoppte Eilzug rast ungebremst in einen Güterzug! 18 Tote sind zu beklagen.

Die Schuldfrage ist zu stellen und zu klären. Das tut Ödön von Horváth in seinem Schauspiel „Der jüngste Tag“ von 1937, das Giselher Klebe (der grundsätzlich nur Literatur-Opern geschrieben hat) als Grundlage für sein Musiktheater gewählt hat. Eine Schuldfrage, die weit über das rein Juristische hinausgeht. Offiziell wird Bahnhofsvorsteher Hudetz freigesprochen, weil Anna, die Tochter des Wirtes der Dorfschänke, einen Meineid leistet und behauptet, das Signal sei rechtzeitig gestellt worden. Hudetz‘ Ehefrau, Augenzeugin des Vorfalls, dagegen hatte zuvor ihren Mann schwer belastet, was zur Verhaftung geführt hat. Doch ihre Aussage wird verworfen, Hudetz kommt frei. Falschaussage resp. Meineid aus Liebe? Ganz sicher! Denn seine um 13 Jahre ältere Frau hat Hudetz nie wirklich geliebt. Und Anna ihren eigentlichen Verlobten Ferdinand auch nicht! Aber Anna und Hudetz? Eine ersehnte, aber unmögliche Liebe.

Es sind diese Gefühle von Zuneigung und Verachtung, von Misstrauen, Eifersucht und Pflichtbewusstsein, die hier, in diesem dörflichen Mikrokosmos auf individueller wie kollektiver Ebene verhandelt werden. Dazu hat Bühnenbildnerin Sonja Füsti ein auf den ersten Blick verwirrendes Konstrukt aus Metallprofilen zusammengeschweißt. Mit Treppen, kleinen Balkonen, Plattformen, einem Käfig – dies alles um die vertikale Achse drehbar. Schnell erweist sich dieses Gebilde als kongenialer Raum für intime Zweisamkeit und ein fröhliches Dorffest, als Ort heftiger Auseinandersetzung, der Rechtsfindung, unbemerkter Observation – kurz: es ist eine multifunktionale Kulisse für ein starkes Stück Musiktheater, das Giselher Klebe ausweist als einen Komponisten, dessen musikalische Sprache psychologisch sehr genau die nicht ganz unkomplizierte Handlung der literarischen Vorlage begleitet, kommentiert, ausdeutet.

Das personalintensive Stück – 18 Rollen sind zu besetzen ! – entwickelt in jedem Augenblick einen beachtlichen Sog. Man versteht die abgrundtiefe Verletztheit von Frau Hudetz ob ihrer gescheiterten Ehe, kann sich hineinversetzen in ihren scheinbar emotionslosen Ehemann, der sich im Hinblick auf die Zug-Tragödie schuldlos fühlt, weil es ja Anna war, die ihn abgelenkt hatte. Und dass Anna mit ihrem schwer auf ihr lastenden Wissen um den Meineid nicht umgehen kann, daran zerbricht, auch das ist plausibel. Sie wird von Thomas Hudetz ermordet – womit er sich der Zeugin der Wahrheit entledigt, nun aber eigene Selbstmordfantasien entwickelt. Der Geist der toten Anna erscheint ihm und hindert ihn am geplanten Suizid. Jetzt ist es die „höchste Instanz“, der sich Hudetz stellen will: dem jüngsten Gericht.

Erstaunlich, dass Klebes „Der jüngste Tag“ kaum einmal zu hören und zu sehen ist, denn zweifellos ist diese Oper absolut repertoiretauglich. Die Detmolder Inszenierung ist ein schlagender Beweis, zumal bis hinein in die kleineren Rollen auf durch und durch hohem Niveau gesungen wird. Benjamin Lewis und Emily Dorn geben das Ehepaar Hudetz, Sheida Damghani eine faszinierende Anna, Andreas Jören den Schwager des unglücklichen Bahnbeamten, Lotte Kortenhaus die Kellnerin der Dorfkneipe – allesamt ausgezeichnete Sänger-Darsteller*innen wie das gesamte Ensemble. Lutz Rademacher am Pult des Symphonischen Orchesters des Landestheaters Detmold organisiert das über weite Strecken kammermusikalisch angelegte Geschehen mit großem Gespür für die Sinnlichkeit der Musik und entfaltet all ihre große Farbigkeit.

Interessant, dass in der Opernlandschaft Nordrhein-Westfalen derzeit gleich mehrere benachbarte Bühnen die Fragen nach Schuld und Sünde thematisieren: in Essen ist Alessandro Scarlattis „Kain und Abel oder Der erste Mord“ zu sehen, in Bielefeld steht Peter Eötvös‘ „Paradise Reloaded (Lilith)“ auf dem Spielplan. Und nun in Detmold „Das jüngste Gericht“…


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