Unterschiedlicher hätten die Voraussetzungen kaum sein können als bei den beiden Opernuraufführungen, die im Oktober in Berlin und Nürnberg über die Bühnen gingen. In Nürnberg eine dem gediegenen fränkischen Staatstheaterambiente angemessene Literaturoper, im Schillertheater, dem Interimsquartier der Lindenoper, ein Hauptstadt-Ambitionen suggerierendes Gedanken-Musik-Theater mit hohem intellektuellen Anspruch. Weil hierzu ursprünglich Christoph Schlingensief seine assoziativen Bilderwelten liefern sollte, war das Medieninteresse vergleichsweise hoch. Was würde das Produktionsteam im Kollektiv – auf einen Ersatz für den verstorbenen Regisseur war verzichtet worden – aus der doppelten Überschreibung von Nietzsche-Texten (zunächst durch René Pollesch, dann durch Jens Joneleit und Jens Schroth) szenisch machen? Die Antwort hierauf war am Ende ebenso enttäuschend wie die Unternehmung insgesamt.
Joneleit und Schroth ist es nicht gelungen, einen auch nur in Ansätzen theatral wirksamen, musikalisch herausfordernden oder – so der Anspruch – Erfahrungsräume öffnenden Text zusammenzustellen. Mal selbstironisch, über weite Strecken aber mit heiligem Ernst sondern die Sänger eine Mischung aus philosophischer Selbstfindung und Alltagsbewältigung ab, die vage mit Nietzsches Dichotomie des dionysischen und apollinischen Prinzips zu tun hat. Schauspieler Martin Wuttke darf seine Sentenzen gar im Gewande eines antiken Denkers aufsagen.
Den sechs Personen, die eingangs aus dem in Ganzkörperkondomen uniformierten Chor heraustreten, bleibt angesichts der Vorlage kaum etwas anderes übrig, als mit geringen Positionswechseln ihren Part abzuliefern. Videozuspielungen zeigen Schlingensiefs „100 Jahre Adolf Hitler“, am Ende fällt Licht auf jenen Teil der Szenerie, der bis dahin nur schemenhaft erkennbar war, und damit auf jene naiv pappmachierten Eingeweide, mit denen dieser ursprünglich sein Krebsleiden mit in die Produktion hatte hineinnehmen wollen.
Jens Joneleit wiederum, der zunächst abseits des üblichen deutschen Neue-Musik-Betriebs seinen Weg machte, hätte man durchaus zutrauen können, anknüpfend an die eindringliche Untergrundbeschallung in seiner Biennale-Oper „Piero“, auch das operntauglich umgebaute Schillertheater als neuartigen Klangraum zu nutzen. Stattdessen hatte er es offenbar vorgezogen, eine staatskapellenkompatible, eher konventionell in Orchestergruppen und -farben gedachte Partitur abzuliefern. Das ist im Wechsel der Tonfälle – fünf Klang-Zuständen – und in den Zwischenspielen handwerklich untadelig gemacht. Die Balance mit den in fast Berg’scher Opulenz (Annette Dasch mit ordentlicher Leistung) und Prägnanz (Graham Clark schien sich an das Geschwafel des Hauptmanns aus der ersten Wozzeck-Szene zu erinnern) geführten Stimmen ist jederzeit gewährleistet.
Nur: ein existenzielles Mitteilungsbedürfnis strahlt diese Musik zu keinem Zeitpunkt aus. Ihre enttäuschend wenigen Kanten schien Daniel Barenboim überdies mit großzügiger Geste abzuschleifen, die Staatskapelle dankte es ihm mit fast süffiger Routine.
Ein ähnliches, wenn auch von anderen kompositionstechnischen Voraussetzungen ausgehendes Klangbild ergab sich in Detlev Glanerts neuer Oper. Deren Stoff, Hans Henny Jahnns Roman „Das Holzschiff“ (von Christoph Klimke dramaturgisch geschickt kondensiert) schreit geradezu nach einer Vertonung und Opern-Routinier Glanert hat keine Mühe, die Atmosphäre auf der rätselhaften Barke, auf der ein blinder Passagier seine Verlobte verliert, um einen Geliebten zu finden und ins Ungewisse, ins Freie aufzubrechen, mit illustrativer Üppigkeit zu einem veritablen Seestück auszumalen. Da tosen, von den Nürnberger Philharmonikern unter Guido Johannes Rumstadt souverän bewältigt, die orchestralen Wogen, flatterzüngige Sturmwinde nehmen von allen Instrumentengruppen Besitz, Personenmotive durchziehen die Szenerie, alles klingt schaurig gut und ist doch, vor allem auch in der Führung der Gesangsstimmen und der Choreinwürfe, über weite Strecken von einer erschreckenden Vorhersehbarkeit. Mehr als einmal beschleicht einen das Gefühl, das alles in einer motivverwandten Oper schon einmal viel zwingender gehört zu haben: in Brittens „Billy Budd“.
Am überzeugendsten gelingt Glanert eine komplett zurückgenommene Szene: Die überragende Heidi Elisabeth Meier, deren Zwiegespräche mit dem Mezzo Anna Lapkovskajas (in der etwas zu kurz kommenden Hauptrolle des Gustav Anias Horn) schon zuvor die vokalen Höhepunkte markiert hatten, erzählt – nun in der Rolle Alfred Tuteins – die Geschichte des Untoten Kebad Kenya, einzig umspielt von den Klängen eines Akkordeons. Hier und im anschließenden Zwischenspiel ist auch Johann Kresniks Inszenierung auf Augenhöhe: Zwei Tänzer vollziehen stellvertretend für die Protagonisten eine immer tiefer ins Körperliche vordringende Blutsbrüderschaft. Ansons-ten geht, trotz einiger starker (Bühnen-) Bilder Bernhard Hammers, von den Tanzeinlagen musikalisch wie szenisch wenig Bedrohung aus. Den Tanker Opernbetrieb bringen solche Produktionen kaum in Bewegung.