Die Cavatine „Casta Diva“ ist die Vorzeigearie aus der Oper Norma, eine Visitenkarte sängerischer Kunst. Jedes Mal, wenn eine Sängerin es wagt, sich Bellinis „Norma“ und damit der Herausforderung des „Casta Diva“ zu stellen, muss sie gegen die Schatten aller Norma-Interpretinnen vor ihr ansingen: von Giuditta Pasta über Joan Sutherland, Leyla Gencer und Renata Scotto, Anita Cerquetti, Montserrat Caballé und eben La Divina, Maria Callas. In den ca. sieben Minuten, die die Paradearie – längst eine Ikone des italienischen Belcanto – dauert, entscheidet sich das Schicksal der Partie (bzw. ihrer Sängerin) und damit des ganzen Abends.

Rachel Willis-Sørensen (Norma), Riccardo Fassi (Oroveso), Chor. Foto: Bernd Uhlig
Ein wahres Belcanto-Fest – „Norma“ an der Berliner Staatsoper
So war es auch an der Berliner Staatsoper, wo man zur Eröffnung der diesjährigen Festwochen eine Koproduktion mit dem Theater an der Wien zeigte, die schon vor 5 Jahren gezeigt werden sollte, aber wegen der Pandemie und ihrer Folgen erst jetzt herauskam.
Vincenzo Bellinis 1831 uraufgeführte Erfolgsoper gilt als Inbegriff des Belcanto – und bietet doch mehr als bloßen Schöngesang. Bereits Richard Wagner erkannte, dass die ungemein dramatische Musik ein „Seelengemälde“ der Protagonistin ist. Der inzwischen hoch gehandelte, russische Regisseur Vasily Barkhatov unterstreicht in seiner Lesart Normas Zerrissenheit zwischen ihrer öffentlichen Funktion und persönlichen Gefühlen vor dem Hintergrund einer politischen Revolution. Seine Deutung siedelt nicht im Spannungsfeld zwischen Römern, Galliern und Druiden an, sondern in einer modernen Diktatur. Es ist eine dezidiert politische Lesart. Sie spielt in einer Keramik-Fabrik. Zinovy Margolin hat ihm eine ausladende, realistische Backsteinfabrikhalle mit Empore, drei Brennöfen und Tischen mit (zunächst Heiligen-, dann Diktatoren-Büsten) auf die Bühne der Staatsoper gestellt.
Zu Beginn der Ouvertüre befindet man sich in einer großen Fabrikhalle, wo derzeit edle Statuen und das Bildnis einer Göttin von emsig und liebevoll hantierenden Kunst-Handwerkerinnen gefertigt werden. Geräusche von Revolution und Massentumulten. Plötzlich stürmen Soldaten herein und schlagen alles kurz und klein. Mit brachial wütender Gewalt installiert der neue Herrscher eine neue Ordnung, in uniformierter Fabrikkleidung müssen die Staatsbürger fortan ihm huldigende Büsten anfertigen.
Vorhang. Die Ouvertüre geht weiter, eine Schrift am Vorhang verkündet uns, dass inzwischen mehr als zehn Jahre vergangen sind. Alte Götzenbilder wurden von neuen Götzen abgelöst. Dann sieht man ein Kinderzimmer mit den Koffern und Betten der inzwischen herangewachsenen Buben Normas. Zwischendurch gefängnisartige Gänge mit Türen, eine Art Wohnzimmer samt Tisch mit drei Stühlen. Und immer wieder schwarze Vorhänge, es sind harte Schnitte, die die Szenen trennen.
Barkhatov zeichnet die Figuren und Vorgänge scharf umrissen und genau im Detail, dabei handwerklich souverän. Er beherrscht sein Regiehandwerk. Dass die zugegeben unkonventionelle Inszenierung von einem schon vor dem Ende der Vorstellung lautstark buhenden, konservativen Teil des Publikums, das „Norma“ womöglich mit Druiden-Bärten, Togen, römischen Sandalen und Sicheln sehen will, abgelehnt wird, muss hingenommen werden.
Barkhatov verortet die neuen Verhältnisse in einem (östlichen) faschistischen Regime mit diktatorischem Führer. Mag diese Lesart – aus derzeit nahezu weltweit politisch traurig aktuellem Anlass – in letzter Zeit auf den Opernbühnen auch etwas überstrapaziert worden sein, hier geht sie konzeptionell schlüssig auf, denn der Regisseur zeigt eine psychologisch packende, sich in plausibler Kleinteiligkeit zuspitzende Dreierbeziehung mit Eifersucht, verletzter Liebe, Entdeckungsangst und Mordgelüsten, ja Suizidgedanken.
Die Oper ist alles andere als ein antiker Historienschinken. Schon im Libretto von Felice Romani gibt es einen politischen Hintergrund. Gallien wurde bekanntlich im ersten Jahrhundert vor Christus von den Römern erobert und Druiden gab es tatsächlich. Gallien wurde ein besetztes Gebiet, von dem römischen Feldherren Pollione wurde es verwaltet, während die Druiden-Priesterin Norma die Macht und die Funktion hat, ihr Volk zu Frieden zu beschwichtigen oder in den Krieg zu führen. Da Norma (die ein Keuschheitsgelübde abgelegt hat) ausgerechnet Pollione, den Erzfeind liebt, ist die tragische Zuspitzung der Geschichte vorgegeben.
Natürlich, es geht in Bellinis „Norma“ auch um männliche Unzuverlässigkeit, Gewissenlosigkeit und Flatterhaftigkeit, gewiss. Pollione wechselt immerhin eiskalt Norma gegen das neueste erotische Objekt seiner Begierde, Adalgisa aus. Mit dem Römer Pollione hat Norma jedoch zwei Kinder, die sie vor der Öffentlichkeit versteckt hält. Das Volk der Gallier steht gegen die römische Besatzung auf.
Der Wille zum Widerstand gegen die Römer wächst unter den Galliern. Die Oberpriesterin soll endlich das Zeichen zum Aufruhr gegen die Unterdrücker geben. Doch Norma zögert vor dem Hintergrund eines pikanten Gewissenskonflikts. Als sie erfahren muss, dass Pollione Adalgisa liebt und mit ihr fliehen will, rastet sie aus. Erst will sie ihre Kinder töten, dann Adalgisa, zuletzt sich selbst. Norma will sich in den Brenn-Ofen stürzen, doch Pollione hält sie in der Inszenierung von Barkhatov davon ab (bei Bellini endet die Oper mit einem „Liebestod“ auf dem Scheiterhaufen). Ein rotglühendes Happy-End?
Wie auch immer. Man wohnt einem großen Abend bei. In der Titelrolle wird man überrascht von der US-Amerikanischen Sopranistin Rachel Willis-Sørensen. Die hochgewachsene, mit weiblichen Attributen gesegnete Frau ist eine Sensation. Sie hat eine voluminöse, helle und warme Stimme (sie singt weltweit Wagner- und Strauss-Partien). Ihre Gestaltung der Titelpartie ist bedingungslos und mitreißend. Vom dramatischen Fach herkommend, stellt sie unter Beweis, dass sie auch die Kunst des Belcanto-Gesangs virtuos beherrscht.
Der weltweit gefragte Moskauer Tenor Dmitry Korchak ist als Pollione eine Wucht. Er ist vom ersten bis zum letzten Ton seiner Partie geradezu umwerfend, denn er verfügt über den notwendigen tenoralen Schmelz und enorme Durchschlagskraft. Höhenprobleme scheint er nicht zu kennen, im Belcanto scheint er zu Hause zu sein. Die Adalgisa der georgischen Mezzosopranistin Elmina Hasan ist ebenso großstimmig wie stimmgelenkig-elegant, eine geradezu balsamische Ausnahmesängerin im Mezzosopran-Fach. Zurecht ist sie bereits mehrfach ausgezeichnet worden. Auch der längst international gefragte Bass-Bariton (Basso cantabile) Riccardo Fassi als Oroveso und die junge sibirische Sopranistin Maria Kokareva (aus dem internationalen Opernstudio der Staatsoper Unter den Linden) als Clotilde überzeugen voll und ganz.
Die Staatskapelle Berlin ist unter der energischen, schwungvollen Leitung des römischen Dirigenten Francesco Lanzillotta, der im internationalen Aufwind segelt, in bester Form. Sie spielt rhythmisch federnden Belcanto, kraftvoll und doch subtil, mit viel Liebe zu instrumentalem Detail, ohne es an Dramatik und Spielfreude ermangeln zu lassen. Auch der von Dani Juris einstudierte Staatsopern-Chor lässt nichts zu wünschen übrig.
Alles ein wahres Belcanto-Fest der Stimmen, wie man es lange nicht gehört hat.
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