In der Stuttgarter Staatsgalerie bringt Fred Frith eine Installation von Christian Marclay zum Klingen. Dietrich Heißenbüttel hat es sich angesehen und –gehört. Sein Bericht.
Im ersten Raum eine Videoarbeit: eine runde Scheibe mit Nägeln, die sich dreht, wobei Kugeln immer wieder klackernd ihren Weg nach unten suchen. Dieter Roths „Kugelbild“ war ursprünglich dazu gedacht, dass Ausstellungsbesucher daran herumspielen. Aber inzwischen sind alle Objekte des Archiv Sohm, das sich seit 1981 in der Stuttgarter Staatsgalerie befindet, viel Geld wert, und aus konservatorischen Gründen heißt es: bitte nicht berühren! Um den ursprünglichen Gedanken dennoch erfahrbar zu machen – denn der Ton gehört mit dazu – hat Christian Marclay die Scheibe vor der Videokamera in Bewegung gesetzt, und dabei das Bild neu komponiert.
Im dritten Raum der Ausstellung stehen 16 Monitore auf Sockeln im Kreis. Hier packt Marclay Fluxus-Schachteln aus, selbstverständlich mit weißen Handschuhen. Aber er folgt nicht den Anweisungen der Künstler, sondern klopft die Objekte auf ihre akustischen Qualitäten ab. Eine sehr feinsinnige Klanginstallation, die sich mit an John Cage geschulten Ohren sehr wohl genießen lässt – falls sich nicht zu viele andere Besucher im Raum befinden und die zarte Geräuschkulisse stören.
Im langen mittleren Raum hat der Künstler über die gesamte Längswand hinweg bis zur Decke hinauf eine Tafel mit Notenlinien angebracht. So hoch die Arme reichen ist diese bereits reichlich voll geschrieben, als Fred Frith – als Zweiter nach Elliott Sharp – antritt, das Aufgezeichnete in Klänge zu übersetzen. Gemäß Marclays Konzept – so demokratisch wie das der Fluxus-Künstler – sollten alle Ausstellungsbesucher Gelegenheit haben, ein Stück des Werks mit zu komponieren, das dann in verschiedenen Versionen zur Aufführung gelangt.
Über weite Strecken hinweg sieht es allerdings eher aus wie eine Graffiti-Wand. „War hier“, steht da, „Jau! JauL!“ und „Das Leben ist schön“, oder auch „Du musst dein Ändern leben!“ Dazwischen Köpfe, Blumen, ein Delfin, Handabdrücke, prominent eine lebensgroße, plastisch ausgearbeitete Aktzeichnung. Die Anschläge von Paris nehmen breiten Raum ein. Es wirkt als hätte eine Schulklasse ihre Kreativität ausgelebt – in Realität waren es eher die Besucher der „Jungen Nacht“ der „Jungen Freunde Staatsgalerie“ am 11.11.
Ein Stuhl steht bereit, davor ein umgedrehter Teppich mit verschiedenen Pedalen und ein Lautsprecher, auf dem noch ein älteres Transistorradio steht. Auf einem Rollwagen liegen Lappen und Dosen: allerlei Objekte, wie sie Fred Frith zum Bearbeiten seiner E-Gitarre verwendet. Er hat die Wand, zur Orientierung der Zuschauer mit Klebeband markiert, in acht Abschnitte unterteilt und wird im Lauf der einstündigen Aufführung mit Hilfe eines Haustechnikers von einer zur nächsten Station wandern. Die Stuhlbeine kreischen, währenddessen läuft ein Loop: Wie fast immer in seinen Solo-Improvisationen lässt Frith immer wieder einzelne Passagen im Endlos-Modus sich wiederholen, sei es ein lautes Knacken oder eine schöne Melodie. Darüber legt er weitere Schichten, die in diesem Fall allerdings nicht frei improvisiert sind, sondern im großen Ganzen dem Notenbild folgen.
Wie spielt man Sprüche, Herzchen, Blumen, eine Aktfigur? Dass Frith auf die Tafel schaut, wird spätestens dort auch hörbar, wo auf den fünf Linien tatsächlich Noten eingetragen sind. An einer besonders markanten Stelle, wo auf eine halbe Note Triolen-Achtel folgen, lässt er das Motiv sogar als Loop weiterlaufen, betätigt dabei allerdings ein Pedal so, das die Melodie zu mehreren parallelen Linien vervielfältigt. Anderswo lassen sich Wellen- oder Zickzacklinien ebenfalls als Melodieverläufe interpretieren, kräftige Striche oder ein weißes Quadrat als markante Akzente. „Das ist mein Platz“, steht in einem rechteckigen Rahmen. „Stamp your feet!“: Diese Aufforderung lässt sich Frith nicht entgehen, „Clap your hands“ ebenso wenig. „Play light blue/ play dark blue“: diese Anweisung beschreibt eher eine Stimmungslage, die sich nicht auf exakte Notenwerte festlegen lässt.
Letztlich ist die Vielzahl der Worte und Bilder, die dann überwiegend doch nicht im Gedanken an Klänge auf die Tafel geschrieben wurden, niemals vollständig spielbar. Die Vorlage steuert den Ablauf, bringt an einzelnen Stellen erkennbare Signale ins Spiel und modifiziert die Routine des routinierten Improvisators, aber auch die Rezeptionsbedingungen der Zuhörer: Kaum haben sich einige auf den Museums-Klapphockern niedergelassen, wandert der Musiker weiter zur nächsten Station, müssen die einen Platz machen, während die anderen ihm folgen. Das bringt Bewegung ins Spiel, trägt zur Lebendigkeit bei.
Am Vortag hat Frith auf der cresc... Biennale in Darmstadt zu den Live-Visuals seiner Partnerin Heike Liss mit sechs Musikern der hr‑Bigband und vier ausgezeichneten Improvisatorinnen ebenfalls ein einstündiges Programm absolviert. Die zehn Musiker saßen im Halbrund, Frith abwechselnd vorn am Pult und als elfter im Kreis. Es begann mit sehr langen Tönen, solistischen Passagen der Cellistin Okyung Lee, der Saxophonistin Lotte Anker, immer wieder der Pianistin Christine Wodraszka und schließlich Susana Santos Silva an der Trompete. Offenbar waren bestimmte Abläufe einstudiert, aber in der Reihenfolge nicht festgelegt. Frith gab Handzeichen, alle waren gezwungen, stets wachsam zu bleiben und konnten am Ende selbst abwechselnd durch Handzeichen die Richtung angeben. In dem Moment waren etwaige Unterschiede zwischen den Jazzmusikern, für die diese Art des Zusammenspiels noch ungewohnt sein mochte, und den versierten Solistinnen abgebaut. Eine vorbereitete Zugabe endete damit, dass Santos Silva, die nur einen kurzen, trockenen Ton zu spielen hatte, angesichts der Unterforderung in Lachen ausbrach.
Während Frith in der Staatsgalerie stumme Kreidezeichnungen zum Klingen brachte, exerziert Marclay in einer anderen Arbeit den umgekehrten Vorgang: „Mixed Reviews“ in der Reihe „Silent Cinema“ zeigt den gehörlosen Schauspieler Jonathan Kovacs, der Musikkritiken in amerikanische Gebärdensprache übersetzt. Er tut dies auf so expressive Weise, dass wer eben aus der Fred-Frith-Performance kommt, unwillkürlich Gitarrenklänge zu hören meint.