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Foto: Monika Rittershaus
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Eindrucksstark: George Enescus „Œdipe“ an der Komischen Oper Berlin

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Die Restriktionen der Pandemie nutzend, hat der russische Regisseur Evgeny Titov die 1936 in Paris uraufgeführte Oper von George Enescus einziger Oper „Œdipe“ auf eine Dichtung von Edmond Fleg nach Sophokles um ein Fünftel verkürzt zu einem pausenlosen, knapp zweistündigen Abend und den Chor im zweiten Rang des Hauses an der Behrenstraße angesiedelt.

Thespis als Leiter jener antiken Festspiele in Athen, auf die unsere gesamte westliche Theaterkultur zurückzuführen ist, ließ den Mythos für seine Tragödienaufführungen alljährlich von einem anderen Dichter in Verse fassen, um so möglichst viele Facetten der Götter- und Heldengeschichten auszuleuchten. Ähnliches erlebt das Berliner Opernpublikum zu Beginn dieser Saison, wo die Deutsche Oper mit Mark-Anthony Turnages „Greek“ eine junge, freche Deutung des Ödipus-Mythos anbietet, gefolgt von der Komischen Oper Berlin, in der nun Evgeny Titov George Enescus singuläres Musikdrama „Œdipe“ inszeniert hat.

Im Bühnenbild von Rufus Diwidszus und in Kostümen von Eva Dessecker wird die Handlung der vieraktigen Tragédie lyrique in einem rechteckigen Einheitsraum abgespult. Metallische Wände umschließen ein zentrales, ebenfalls rechteckiges Becken, welches zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit diversen Flüssigkeiten angefüllt wird.

Den Namen Oedipus, zu deutsch Schwellfuß, hat der (Anti-)Held von seinen Zieheltern aufgrund von Fußverletzungen erhalten, denn dem Knaben waren nach der schlimmen Weissagung, er würde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten, die Fersen durchgeschnitten worden.

In Evgeny Titovs eindrucksstarker szenischer Umsetzung mit einem 16-köpfigen Bewegungschor, der anstelle des Chores auf der Bühne agiert und sich bei der Seuche in Slime wälzt, gebärt die treffliche Sängerdarstellerin Karolina Gumos als Jocaste nackt, aber mit vorgeklebtem Schwangerschaftsbauch, einen Knaben, der als Schwellkopf bereits den Kopf des erwachsenen Sängerdarstellers der Titelpartie trägt.

Als seinem Spiegelbild, ebenfalls in derselben Maske mit Halbglatze, begegnet Œdipe dem Hirten, und auch die Sphinx erscheint als ein Double des Protagonisten.

Fußprobleme hat zwar nicht Œdipe, aber seine Ziehmutter Mérope (Susan Zarrabi), zunächst durch den Verlust eines Stöckelschuhs und dann (als Folge der high heels?) im Rollstuhl – wobei schwer nachvollziehbar ist, warum sich die Sängerin für den Auftritt im Rollstuhl doubeln lässt.

Der Hirt, der den Knaben des thebanischen Königspaares Laios und Jocaste rettet, ist bei Titov kein guter grand prêtre sondern ein diabolisch Verwachsener: zumeist stumm ruft Vazgen Gazaryan die Puppe des Neugeborenen den Darstellern (und dem Publikum) ins Gedächtnis.

Als der blinde Seher Tirésias (Jens Larsen) das Königspaar anklagt, warum sie trotz der Warnung der Götter dieses Kind gezeugt und geboren hätten, bespucken die Eltern den Säugling, und König Laios (Christoph Späth) kopuliert mit Jokaste um aufs Neue ein hoffentlich besseres Kind zu zeugen.

Œdipes Mord an dem ihm unbekannten Wagenlenker auf der Straßenkreuzung am Scheidewege, seinem leiblichen Vater Laios, wird nicht bebildert; dafür ist das Ergebnis der Tat stark genug in der Wirkung: Eingeweide quillen aus dem nackten Körper des Vaters, auch noch als der Leichnam in die lange Schleppe des Kleides der Königin Jocaste gewickelt und so von ihr wegtransportiert wird.

Dem Œdipe wird die Königin Jocaste nach seiner Befreiung Thebens von der Sphinx, vom Volk geradezu aufgedrängt. Als Jocaste erfährt, dass ihr neuer Gatte und Vater ihrer Kinder ihr eigener Sohn ist, bringt sie sich um: ihr Blut spritzt stoßweise aus der Halsschlagader an die silberne Wand und haftet dort wie ein Menetekel.

Dramaturgisch sinnfällige Beleuchtungs-Regie (Licht: Diego Leetz) setzt Realität und Traumsequenzen – letztere im Orchester signalisiert von Windmaschine und Donnerblech – deutlich voneinander ab. Weniger überzeugt ein Leuchtobjekt von 60 zu einer Art von kinetischer Liegematte verknüpften Leuchtröhren als Symbol für die Sphinx. Der körperliche Auftritt von La Sphinge, als ein Double des Protagonisten, wirkt dank des eindrucksvollen Gesanges und Spiels von Katarina Bradić durchaus stärker.

Während Hans Neuenfels in seiner Stuttgarter Inszenierung dieser Oper (2013) den Schlussakt mit Œdipes Suche nach Erlösung, als ihm unbotmäßig katholisch erscheinend, gekappt hatte, war die Suche nach neuen Lebens-Inhalten im Kampf mit dem vorbestimmten Schicksal in der Inszenierung von Götz Friedrich an der Deutschen Oper Berlin (2000) besonders nachhaltig gelungen. Für den Dirigenten der Neuinszenierung an der Komischen Oper Berlin, Ainārs Rubiķis, ist dieser Akt der musikalische Höhepunkt der an ungewöhnlichen Reizen überreichen Partitur.

Szenisch ist der vierte Akt weniger ergiebig, doch um so mehr beeindruckt die gesangliche und darstellerische Leistung von Leigh Melrose in der Titelpartie, ein überzeugender, dem Schicksal trotzender und doch unterliegender Protagonos.

Auf das den blinden Seher Tirésias führende Kind ist in dieser Inszenierung ebenso verzichtet worden, wie auf Œdipes stumme Tochter Ismene. Auch die den Œdipe als Tochter und Halbschwester geleitende Antigone (Mirka Wagner), die dem Geblendeten eine schwarze Augenbinde umlegt, während sich das Bassain mit reinigendem Wasser neu füllt, hat nur ein kurzes Bühnenleben.

Als optischer und akustischer Überhang dauert Œdipes finaler Versuch, jenes Blut wegzuwischen, das beim Selbstmord seiner Mutter und Gemahlin an die Wand gespritzt war, auch noch nach dem Schlussakkord an.

Umstritten die Wahl der Sprache der Aufführung: in Stuttgart war, dem Anlegen des Komponisten, unbedingt textverständlich zu sein, die deutsche Sprache gewählt worden, wie es für Jahrzehnte an der Komischen Oper Berlin – im Geiste Walter Felsensteins – üblich war und diesem Haus ein Alleinstellungsmerkmal geschaffen hatte. Wie im Jahre 2000 die Deutsche Oper, so wählt auch 2021 die Komische Oper die französische Übersetzung der Uraufführung.

Musiziert und gesungen wird großartig, auf sehr hohem Niveau, wobei das Publikum, im Schachbrettmuster auf die Sitze des Parketts und partiell auch des ersten Rangs verteilt, der Aufführung ohne Maske folgen darf. Von Enescus eindrucksstarker Komposition als einem Surround-Live-Erlebnis umfangen, von den zwei Harfen zur linken Seite des Orchestergrabens über die Holzbläser im ersten und die Bühnen-Trompeten im zweiten Rang („Rufe, herab von den sieben Türmen“) und schließlich von den im Rund des zweiten Ranges singenden und exzellent flüsternden Chören: den Chorsolisten und dem Kinderchor der Komischen Oper sowie dem Vocalconsort Berlin, die David Cavelius mit Taschenlampe dirigiert – wie weiland Chordirektor Wilhelm Pitz in Bayreuth.

Generalmusikdirektor Rubiķis ist in dieser Aufführung eindrucksvoller denn je zuvor als ein Meister seines Fachs zu erleben. Er zielt auf eine Verdichtung der Einzelklänge der Heterophonie dieser Partitur und macht deren Viertel- und Dreiviertelton-Passagen zu einem besonderen Erlebnis. Als weitere Besonderheiten werden dem Rezensenten die Singende Säge, welche den letzten Ton der Sphinx aufgreift und weiterführt und die Nachtigallenflöten, welche die freie Natur assoziieren, im Ohr bleiben.

Ein großartiger Musiktheater-Abend, auch in der zweiten Aufführung vom Publikum zurecht lautstark bejubelt.

  • Weitere Aufführungen:  07., 11. und 26. September 2021.

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