Klang, Struktur, Form, Ausdruck und Aussage hängen zusammen. Das eine erwächst aus dem anderen und macht dieses überhaupt erst fasslich. Umfassend und intensiv erlebt wird Musik vor allem dann, wenn diese Ebenen sich wechselseitig erhellen, statt bloß inhaltlich identifiziert, analytisch zerlegt oder rein sonorisch gehört zu werden. Doch ähnlich den Fliehkräften in Welt und Gesellschaft scheint es Komponierenden momentan immer weniger zu gelingen, diese Dimensionen zusammenzubringen. Stattdessen geht ein Pol auf Kosten der anderen: Klang ist alles, Form ist nichts, Musik ohne Bedeutung, Aktivismus ohne Kunstanspruch, und so wird alles beliebig. Darin offenbarten die 14 Konzerte der Wittener Tage für neue Kammermusik trotz äußerlicher Fülle, Vielfalt, Perfektion und Virtuosität eine substantielle Krise der neuen Musik, die womöglich dokumentarischer Spiegel unserer Zeit ist.
Eine Drehung mehr oder weniger
Unter der neuen künstlerischen Leitung von WDR-Redakteur Patrick Hahn bot das Festival neue Formate und Debüts, blieb aber ohne Aufregungen, Debatten, Begeisterung. Erstmals bespielt wurde das soziokulturelle Zentrum WerkStadt, eine ehemalige Verladehalle der Mannesmann-Röhrenwerke, die sich längst als Spielstätte angeboten hätte. Neu war auch die blumige Betitelung der Konzerte mit „Songs of Presence“, „Call for Nature“, „Town Cry“ oder „Weltatem“, die umso entbehrlicher war, als die darunter gefassten Stücke wenig bis nichts damit zu tun hatten. Wie selten zuvor wurde die Stadtgesellschaft ins Festival einbezogen, was jedoch kein zusätzliches Publikum anlockte. Im Freien vor dem Saalbau umgab das Sinfonische Blasorchester Blow-Witten das umherwandelnde Publikum mit Peter Jakobers „Little Beauty“, einer schwarmartig sich ausbreitenden und am Ende wieder auf ein einzelnes Saxophon verengenden Klangpolyphonie. Verglichen mit Publikumsfestivals wie Wien Modern, MaerzMusik Berlin oder Acht Brücken Köln ist das Umfeld am Südrand des Ruhrgebiets einfach schwierig. Die Wittener Tage bleiben eine Fachmesse für Veranstalter, Fachredaktionen, Verlage, Musikjournalismus und sonstige Professionals.
Kontinuitäten gab es bei einigen Komponierenden und Interpretierenden sowie in dem vom vorherigen Festivalleiter Harry Vogt gut dreißig Jahre lang gepflegten Interesse an Musik aus Frankreich. In Witten debütierten Quatuor Béla aus Lyon und Ensemble C Barré aus Marseille, das mit Mandoline, Gitarre und Harfe über eine markante Zupfgruppe verfügt. Neben den Komponisten Pierre Jodlowski und Sasha Blondeau stammte auch die junge Dirigentin Lucie Leguay aus Frankreich, die das Abschlusskonzert mit dem WDR-Sinfonieorchester gestaltete. Erstmalig in Witten gastierte auch das großartige Synthesizer-Trio Lange/Berweck/Lorenz, leider erst ab 23 Uhr vor weitgehend weggeschmolzenem Publikum. Einziger noch von Vogt geplanter Programmpunkt war die sensationelle Uraufführung von Andreas Dohmens gut halbstündigem Solostück „FPP I“ durch den fantastischen E-Gitarristen Yaron Deutsch. Die Partitur ist auf vier Systemen für beide Hände und Füße notiert. Statt üblicher Spielgesten gibt es simultane Aktionen entweder nur auf dem Griffbrett oder ausschließlich in Höhe der Tonabnehmer. Schnelles Tapping und Fingering wird mit einer Vielzahl an Soundeffekten, Verzerrungen, Delays und räumlicher Lautsprecherwiedergabe kombiniert, so dass in klar erkennbaren Abschnitten eine faszinierende Varianz resultiert.
Vielfältige Klänge mit wenig Substanz
Das IEMA-Ensemble unter Leitung von Raimonda Skabeikaite präsentierte hoch konzentriert sechs per Jury ausgewählte Werke von Kompositionsstudierenden der vier NRW-Musikhochschulen in Detmold, Düsseldorf, Essen und Köln. Alle Stücke waren vielfarbig, schillernd, energetisch, aber auch ähnlich und austauschbar. Statt materialer, struktureller und formaler Prozesse überwogen programmatische Umsetzungen von Natur, Quelle, Planetarium und Kindheit, die sich ebenso gut anders hätten illustrieren lassen. Auch manchen etablierten Komponierenden gingen außermusikalische Anliegen vor kompositorischen Ideen. In Sasha Blondeaus „Autres inappropriés“ wurde der Reichtum an Nuancen und Zwischentönen lediglich durch den Werkkommentar soziopolitisch zum Ausdruck von Queerness deklariert. Doch ist nicht alle Musik non-binär? Welche bestünde bloß aus ein oder aus, kurz oder lang, hoch oder tief, laut oder leise, hell oder dunkel?
Francesca Verunelli wurde mit fünf Werken porträtiert. Die 1979 in Florenz geborene Komponistin verkettet Einzeltöne, Gesten und Figuren zu vielfarbig differenzierten Klängen. Ihre Machart überlagerter Ostinati gleicht sich jedoch in vielen Stücken und treibt immer nur Klangflächen wechselnder Dichten und Energien wie bei Scelsi, Ligeti oder Grisey hervor, nicht aber prägnante Prozesse und Formen. Die Klänge sind wunderschön, aber eindimensional, weil ohne gattungsgeschichtliche oder gesellschaftspolitische Implikation. Das Ensemble Resonanz unter Leitung von Friederike Scheunchen entfaltete Verunellis „In margine“ mit Hauchen, Zittern, Tröpfeln, Prasseln als meteorologische Situation. Da haben Einzelstimmen keine Individualität, sondern sind nur Mittel zum Zweck flirrender Gesamttexturen. Das Streichquartett „Andare“ von 2023 entwickelt immerhin einen Verlauf von tonlosen Texturen zu klirrenden Höchstlagen wie ein Spaziergang von hier nach da.
Werkkommentar-Geschwurbel
Verunellis 70-minütiger Zyklus „Songs and Voices“ für Ensemble C Barré und Neue Vocalsolisten heischt nach dem Nimbus eines Hauptwerks. Der rein instrumentale erste Satz „Five Songs (Kafka’s Sirens)“ besteht aus lang gestreckten Shepard-Skalen, die überlappend einsetzen und einen ständigen Aufstieg suggerieren. Was das mit Kafkas „Das Schweigen der Sirenen“ zu tun haben sollte, wurde kongenial verschwiegen. Die Sätze zwei und fünf boten wahlweise pulsierende, sanft gleitende oder dunkel raunende Klangflächen. Der dritte Satz bestand aus einer stimmigen Kombination von Drumset und ebenso perkussiven Vokal-Aktionen, der vierte aus einem romantizistischen „Love Song“ für Stimme und mikrotonal intonierte Gitarre. Sogartige Dynamik entfacht schließlich der sechste und letzte Satz. Instrumentale und vokale Abschnitte wechseln hart aneinander geschnitten, zuerst langsam, dann immer schneller, bis sich die bipolare Faktur zu hoch energetischem Stottern verdichtet. Der träge mäandrierende Klangfluss erhält dadurch plötzlich eine ungemeine Kraft und Expressivität. Der Rest ist Werkkommentar-Geschwurbel: „[stimmliche Artikulation] findet in einem musikalischen Zustand der ‚reinen Zeit‘ statt, in dem die Stimme die Zeit bewohnt, während sie selbst Gefangene einer streng zeitbasierten Komposition ist“.
So wie das Collective Lovemusic non-binäre Identitäten präsentieren wollte, bot auch das Ensemble Recherche ein primär thematisch motiviertes Programm. „Other Histories“ ist Teil der „Postcolonial Recherche“ der seit 1985 bestehenden Freiburger Formation, deren Gründungsbesetzung inzwischen durch jüngere Mitglieder ersetzt wurde. Während fast vierzig Jahren spielte das Ensemble knapp tausend Uraufführungen und allein 85 Stücke bei den Wittener Tagen. Davon stammen 32 von deutschen, 17 von französischen und acht von italienischen Komponisten. Der Rest verteilt sich auf Nord- und Osteuropa, fünf auf USA, Japan, Südkorea. Nur sieben Stücke stammen von Frauen. Um diesen eurozentrisch-maskulinen Horizont zu weiten, vergibt das Ensemble gezielt Aufträge in bisher nicht beachtete Regionen. Im Wittener Konzert präsentierte man jetzt Stücke von drei Komponierenden aus Südafrika, Serbien und den Philippinen, die ihre kulturellen und kolonialen Prägungen mit charakteristischen Instrumenten, Videos, Sing- und Sprechstimmen beleuchteten. Die Südafrikanerin Monthati Masebe erhielt für ihr Stück „Kusha“ über Kommunikationsformen mit Geistern und Ahnen den mit zehntausend Euro dotierten „WDR Liminal Music Prize für musikalische Grenzüberschreitungen“, zu dem der vormalige „Jazzpreis Musikkulturen“ umgewidmet wurde.
Rolle des WDR
Wie das globale Programm verdankten sich die meisten Wittener Stücke nicht Aufträgen des WDR, sondern der gastierenden Ensembles sowie der Stadt Witten, anderer Veranstalter und der Siemens Musikstiftungen. Lediglich sechs der 18 Ur- und 12 deutschen Erstaufführungen wurden vom WDR beauftragt. Das ist nur ein Fünftel. Tut der Sender genug für sein Festival? Trompeter Marco Blaauw brachte zwei Solostücke ins Programm: Liza Lims rituelles Reenactment keltischer Traditionen „Shallow Grave“ für neolithisches Tonhorn und George Lewis’ „Buzzing“, bei dem einzelne Töne, Rhythmen und Spieltechniken mittels Live-Elektronik zu flatternden Schwärmen akkumulieren. Mit The Monochrome Project gestaltete Blaauw auch Raven Chacons „Call for the Company“ auf dem Gelände der Zeche Nachtigall. Im Steinbruch spielten die acht Trompeten eine neo-scelsianische Klangfarbenmusik über den Ton D, deren beabsichtigte Versöhnung mit der Natur mittels Treibjagd-Signalen jedoch eher wie beim Stockholm-Syndrom als Identifikation der Opfertiere mit den Tätern erschien. Zuvor hatte Ravens „Report“ für acht rhythmisch abgefeuerte Schusswaffen verschiedener Bauarten, Kaliber, Tonhöhen und Lautstärken „musikalischen Widerstand“ leisten wollen, doch angesichts tödlicher Feuergefechte an vielen Fronten der Welt eher befremdlich gewirkt.
Im Foyer des Saalbaus umgab The Monochrome Project das Publikum mit einer effektvollen Raumklangkomposition von Milica Djordjevic. An gleicher Stelle ließen Komponist Sergej Maingardt und Choreographin Anna Konjetzky fünf Tänzerinnen eine E-Gitarre mit Händen, Fäusten, Füßen, Brüsten und Haaren beim Head-Banging traktieren, bis die sicht- und hörbare Energie banalem Techno-Beat wich. Zu später Stunde gebärdete sich Nico Sauer als grotesker Chansonier mit absurden Texten, Aktionen und Klängen zwischen Verstörung, Witz und Parodie. Im Theatersaal realisierte Hannes Seidl eine nicht ausgeführte Idee von Karlheinz Stockhausen. Die vier Musiker des Arditti Quartet kreisten getrennt voneinander in vier großen Vitrinen vierzig Minuten lang auf der Drehbühne. Statt eines rotierenden Rundumklangs vermittelte die Stereoverstärkung allenfalls das Vorne und Hinten auf der Bühne. Auch kompositorisch spielten die Motive von Rotation, Eingeschlossensein und Gemeinsam-Einsam kaum eine Rolle. Eher wirkte die Szenerie wie ein Symbolbild: neue Musik sitzt im Glashaus und dreht sich selbstgenügsam im Kreis.
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