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Foto: Jörg Landsberg
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Eine fiktive Märchenwelt – Alban Bergs „Wozzeck“ am Theater Bremen

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„...von dem Augenblick an, wo sich der Vorhang öffnet, bis zu dem, wo er sich zum letzten Male schließt, darf es im Publikum keinen geben, der etwas von diesen diversen Fugen und Inventionen, Suiten- und Sonatensätzen, Variationen und Passacaglien merkt – keinen, der von etwas anderem erfüllt ist als von der weit über das Einzelschicksal Wozzecks hinausgehenden Idee dieser Oper. Und das – glaube ich – ist mir gelungen.“ Der Wunsch des Komponisten Alban Berg für seine 1921 vollendete und 1925 mit einem Skandal uraufgeführte Oper ging jetzt in der Premiere am Bremer Theater am Goetheplatz großartig in Erfüllung.

Unter der Leitung von Markus Poschner gelang den Bremer Philharmonikern so ziemlich alles, was diese immens schwierige Partitur verlangt. Die symbolischen Schichten der Musik erklangen mit bestechenden Detailkonturen und erfüllten in jedem Augenblock die Grundbedingungen von Bergs Musik: das Gleichgewicht zwischen Konstruktion und Expression, nicht nur den Klang an sich zu gestalten, sondern ihn aus den Zusammenhängen werden zu lassen. So entstehen atemberaubende Crescendi und Orchesterfarben von geradezu irrealer Schärfe, aus der Musik wird ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann, so lebt und atmet, so glüht und fiebert sie.

Dieser Ansatz unterstützt bestens den Ansatz der Regie des jungen Paul Georg Dittrich. Dittrich baute eine Drehbühne (Pia Dederichs und Lena Schmid) mit einem Mond oben drüber, permanent sind so alle Protagonisten anwesend und permanent sehen alle alles. Das bunte Karussell und die Phantasie-Kostüme führen weg von jeglichem Realismus in eine fiktive Märchenwelt, in der es verdammt hart zugeht: Marie in ihrem kleinen Zimmer, der Doktor bei seinen Experimenten, der Hauptmann. Das steht für die tödlichen Systeme, in die der „Prototyp des gesellschaftlichen Außenseiters“ (so Dittrich über den armen Soldaten Wozzeck) gerät und in denen er umkommt. Das steht aber auch für den Kerngedanken der Inszenierung, dass es kein Entkommen aus der eigenen Biographie gibt, mehr noch: das Kind von Wozzeck wird weiterhin ausgestoßen. Das Panoptikum der Mächtigen – Hauptmann, Doktor und Tambourmajor – wird ebenso scharf wie karikatural und fratzenhaft gezeichnet: der krankhafte Ehrgeiz und Fetischismus des Doktors, der schleimige Hauptmann mit seinen Lebenssprüchen und der brutal-eitle Tambourmajor (Christoph Heinrich, Martin Nyvall und Andreas Engelhardt meistern großartig die geforderten Sprechgesangstöne). Die Kinder lernen Gehorsam, Artigkeit, Reinlichkeit, alles im militärischen Gleichschritt.

Claudio Otelli als Wozzeck kann seine überragenden Leistungen als Hans Sachs und Rigoletto fortsetzen: wie er aufbegehrt gegen das Getretensein, hat eine erschütternde Präsenz und menschliche Vieldimensionalität. Auch in der Stimme findet Otelli zu vielen Zwischentönen zwischen unterschwelliger Angst und immer wieder ausbrechender Wut. Ihm zur Seite Nadine Lehner, die die Marie ebenso widerständig anlegt: das ganze Stück durch tobt sie – einfach, proletarisch, mütterlich - wie eine Katze gegen ihr Schicksal und findet zu großem Gesang. Hyojong Kim machte als Andres eine gute, wenn auch in seinem asiatischen Outfit unverständliche Figur.

Es macht das überragende Niveau dieser – etwas überfrachteten - Aufführung aus, dass es ihr gelingt, die Abhängigkeit von Wozzeck und Marie und den Zynismus der Mächtigen in die Aktualität unserer Welt zu überführen, die keinen Deut besser ist als die, die Georg Büchner 1831 nach einem wahren Kriminalfall schrieb.

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