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Foto: Ruth Walz
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Eine ganze weite Welt – Louis Andriessens Spätwerk „Theatre of the World“ in Amsterdam

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Mit „Theatre of the World“ hat sich Louis Andriessen, der seit 30 Jahren Arbeiten fürs Amsterdamer Musiktheater liefert, wieder einmal auf eine ‚Zeitreise’ begeben. Das ist, nach Bernhard Langs „Golem“ in Mannheim und Moritz Eggerts „Terra Nova“ in Linz, die dritte neue Oper, die in den letzten drei Monaten nach diesem Strickmuster angelegt wurde. Allerdings erwies sie sich als die vergleichsweise gelungenste.

Magnificent in der Würdigung eines großen Gelehrtenlebens und mit den prächtigen Bläser-Elogen eines spielfreudigen und historisch informierten Spezial-Ensembles für neue Musik, mit der phantastischen Möblierung der Arena des ehemaligen Königlichen Zirkus-Gebäudes, opulenten permanenten Video-Einspielungen und den Kostümen, die Florence von Gerkan schneidern ließ.

Spuren des Menschheitsfortschritts

Gestützt auf ein Libretto von Helmut Krausser entwickelt „Theatre of the World“ eine Szenenfolge, die auf den jesuitischen Universalgelehrten Athanasius Kircher rekurriert, der sich im Rom der frühen Neuzeit einen Ruf als Mathematiker, Physiker und Astronom, aber auch als Ägyptologe, Sinologe, Vulkanologe, Biologe, Bakteriologe und Musiktheoretiker erwarb. Kircher – und auch das berücksichtigt das Libretto – gehörte zu den Pionieren, die Blut von Pestkranken mit dem Mikroskop untersuchten und einen Maßnahmenkatalog gegen die weitere Ausbreitung der Seuche empfahlen. Lediglich die gelegentlich behauptete Bedeutung Kirchers auch als Komponist und Musiker stellen Krausser und Andriessen ironisch in Frage, indem sie ihren Bühnenhelden zu der Feststellung gelangen lassen: „Aus Liebe zur Musik hab‘ ich nie ein Instrument gespielt“.

Der vielseitig interessierte und hoch talentierte Großkopf des 17. Jahrhunderts wird also durch breit und teuer angelegte, zugleich buffonesk pointierte und tiefgestaffelt kultursinnige Maßnahmen für Augen und Ohren attraktiv. Durch Rückblenden zu seinen Forschungs- und Kopfreisen zum Fluss Lethe, ins Ägypten der Pharaonen und in die Gegend des heutigen Bagdad zum Turmbau zu Babel (und zu statischen Berechnungen für den Fall, dass er tatsächlich bis in den siebten Himmel hochgezogen worden wäre). Nachdem sich mit drei Hexen die Mit- und mit vier Kulturkoryphäen die Nachwelt zu Kircher als Mensch und zur Bewertung der Lebensleistung äußerten, wird das polyglotte, turbulente, groteske und den Gesetzen der Logik enthobene Treiben von einer mit barockem Prunk ausgestatteten Schluss-Sequenz gekrönt: „Zijn nam zal vortleven“.

Mit seiner fünften Oper für de nederlandse opera knüpft Andriessen an der ersten an, mit der er sich 1989 aus der linken Alternativ-Szene in die Zone des Staatstragenden hinauf- und hineinarbeitete – damals zusammen mit Robert Wilson: Die Uraufführung De Materie feierte mit großem Ensemble Episoden der Landesgeschichte und des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts. Auch daran knüpft das neue Welttheater nun an – im Ambiente eines aufgelassenen Friedhofs mit aufgerissenen Gräbern, aus deren Mitte ein gigantischer Zauberer-Hut bis zur schwarz-weiß ans Theaterfirmament gehefteten Sonne reicht. In dieser Bühnenlandschaft treiben sich der alte Prof. Dr. Kircher herum, Papst Innozenz XI. mit extra-intensivem Tenor, eine graue Vielzweckeminenz und ein 12jähriger Knabe, der einer von Kirchers Schülern, er selbst als Junge, der Teufel persönlich (Grüßgott!) oder weiß der Teufel wer sonst sein mag.

Polyglott auf allen Ebenen

Sie treiben es mit einem guten halben Dutzend Sprachen: Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Latein, Deutsch und Mittelhochniederländisch. Leigh Melrose als Sängerdarsteller des alten Kircher ist mit seinem virilen und differenziert eingesetzten Bariton von Anfang bis Ende Zentrum des musikdramatischen Geschehens. Ihm wurden aber von Andriessen keine so effektiv starken Gesangsnummern zugeschrieben wie Lindsay Kesselman, die ihn auf all seinen Wegen als Knabe begleitet und ihm Widerpart leistet, oder Cristina Zavelloni als die aus der Ferne glühend geliebte fromm dichtende Sor Juana Inés de la Cruz. Schwester Zavelloni, die zunächst nur als singendes Bild im Hintergrund erscheint, rückt dem Gelehrten irgendwann einmal auf die Pelle und fordert ihn mit verklemmter Inbrunst heraus. Er hatte sich eigentlich mehr für das einem Renaissance-Bild entstiegene Pärchen anonym Liebender interessiert und bei den beiden ungebeten als Dritter im Bunde eingeklinkt.

Längst gilt Louis Andriessen als namhaftester niederländischer Tonsetzer der Gegenwart. Den Ruf des federführenden Opernkomponisten erwarb er sich nach einer linksstürmischen Jugend vor allem auch durch spektakuläre Zusammenarbeit mit Peter Greenaway mit der obszönen „Rosa“ und dem still-schöneren Stück „Writing to Vermeer“. Profiliert hatte er sich seit bereits in den 1970er Jahren als ‚Polystilist’, als diese musikalische Denk- und Schreibrichtung gerade frisch auf den Markt kam und sich im Gegenschlag  zur „Kölner“ oder „Darmstädter Schule“ als Niederschlag von niederländischem Pragmatismus erwies: Polyglott wie das Libretto, stilistisch demonstrativ nicht stubenrein, sondern angereichert auch mit rebellischem Potential des musikalischen 20. Jahrhundert, diversen Anleihen bei der Tanz- und Unterhaltungsmusik, überhaupt einer scheinbaren „Unbedenklichkeit“ hinsichtlich des Materials und der Verfahrensweisen. Homophonie in den auf die Gesangslineaturen hin orientierten Episoden, wechselt mit schräg aufreizender Heterophonie und Passagen der mit kontrapunktischer Arbeit prunkenden Polyphonie.

Für die musikalische Realisierung kehrte das AskoISchönberg-Ensemble nach langer Pause mit Reinbert de Leeuw (Jahrgang 1938) wieder an die Amsterdamer Oper zurück. Die seitwärts in der Arena postierten Musiker präsentierten die stark bläserlastige Partitur mit einer Vitalität, um die sie manch Jüngere beneiden könnten.

Der Hausherr selbst inszenierte: Pierre Audi, seit drei Jahrzehnten und auf Lebenszeit unumschränkter Herr der Niederländischen Nationaloper und des Holland Festivals, präsentierte eine turbulente Illustration des Kircherschen Lebens. Am Ende noch von einem nachgeborenen Herrenquartett – Voltaire, Descartes, Goethe und Leibnitz – gerühmt und relativiert und damit die ganze Unternehmung auch auf die Ebene von Bildungstheater gehoben. Das neue Amsterdamer Welttheater ist ein altersweises und doch keineswegs zahnloses Stück von Gott (mitsamt seinen fragwürdigen Dienern) und der Welt – mitsamt dem auf sie gerichteten Erkenntnisdrang. Man mag es als Fortsetzung von „La Commedia“ sehen und hören, mit der Andriessen vor acht Jahren – ebenfalls im Theater Carré – das Holland Festival anreicherte. Damals kredenzte er, gestützt auf Texte von Dante, Joost van der Vondel und des Alten Testaments eine Hommage à Amsterdam, die Heimatstadt – mitsamt der buntgemischten musikalischen Aufmerksamkeit für ein Rudel Straßenmusiker, die Stammkneipe, absurde Ausflug ans Meer und den Charme von holländischem Polizeigewahrsam. Das Anheimelnde wurde nun auf eine europäische Ebene gehoben und verzichtete auf allen Lokalpatriotismus. So ist „Theatre oft the World“ alles andere als unpolitisch in diesen Tagen.

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