Wie klingen Opern des 21. Jahrhunderts? Die Kammeroper auf Schloss Rheinsberg unter der Leitung von Siegfried Matthus gründete 2002 die Rheinsberger Opernwerkstatt, um jungen Komponisten Gelegenheit zu geben, mit ihren dort erarbeiteten Musiktheater-Stücken auf die Frage zu antworten. Alex Nowitz‘ „Bestmannoper“ erlebte jetzt ihre Uraufführung.
Die Darstellung realer Unmenschlichkeit durch die Kunst, verbunden mit der Absicht kritischer und moralischer Verurteilungen, gerät oft schneller als beabsichtigt an Grenzen des überhaupt Darstellbaren. Adornos Verdikt, nach Auschwitz könne man lyrische Gedichte nicht mehr schreiben, mag deshalb unverändert gültig sein. Niemand käme wohl auch darauf, Auschwitz mit Lyrik begreifen zu wollen. Paul Celans „Todesfuge“ allerdings beweist gleichsam kontrapunktisch die Legitimität, mit konzentrierter Sprache das Grauen zu fassen, ohne es ästhetischer Glätte auszuliefern. Der realistischen Darstellung des Grauens, der Gewalt, der Barbarei in den künstlerischen Genres, dem Film, dem Theater, der Bildenden Kunst und auch der Oper, sind Grenzen gezogen: Fie Ausdrucksmittel der Kunst führen nur allzu leicht zu einer oft gar nicht beabsichtigten Ästhetisierung des Geschehens. Die blutige Schlacht wird zum „schönen Ölgemälde“, das brutale Gemetzel zum heroischen Akt, das gemeine Verbrechen zum spannenden Krimi. Die Distanz zwischen den wirklichen Vorgängen und der künstlerischen Rezeption ist kaum zu überwinden. Die Ausdrucksmittel der Kunst wirken, und werden sie noch so brutal und scheinbar realistisch angewandt, wie eine unsichtbare, quasi magnetisch aufgeladene Sperrwand zwischen den Sphären.
Die Problematik künstlerischer Bewältigung von Vergangenheit (und natürlich auch von gegenwärtigen Ereignissen) tritt umso stärker als Fatalität hervor, je näher die inkriminierten Geschehnisse einer Gesellschaft und deren psychischer Verfassung stehen. Theater, Kunst, Film können zum Nachdenken anregen, zu Diskussion und emotionaler Anteilnahme. Die Wirklichkeit mit all ihren Scheußlichkeiten heraufzubeschwören, scheint unmöglich. Selbst alte Wochenschauen von Krieg und Greuel wirken in ihrem schmutzig-körnigen Schwarz-Weiß irgendwie nur noch dekorativ: eher als spannende Bilder aus der Vergangenheit.
Die Kunst, besonders der Film, hat immerhin ein Mittel entdeckt, das Böse darzustellen und somit zu bekämpfen: die grimmige Satire, die grelle Groteske, den tödlichen Klamauk. Ernst Lubitsch führte auf diese Weise mitten im Zweiten Weltkrieg in „Sein oder Nichtsein“ seinen bitterbösen Satirekrieg gegen Hitler, der Kollege Charlie Chaplin hatte schon 1940 mit dem „Großen Diktator“ die Abrechnung vorgenommen. Solche satirischen Abrechnungen verfolgen nicht allein den Zweck, den verhaßten „Gegenstand“ zu treffen, sie dienen auch gleichsam als Selbstschutz, als Notwehr der eigenen Psyche. Da Lachen töten kann, muss man es zuletzt damit versuchen. Das schafft Distanz, auch Erleichterung für die Seele, die es zu retten gilt.
Das alles muss hier etwas ausführlicher bedacht werden, wenn man jetzt auf dem Musiktheater einer neuen Vergangenheitsbewältigung begegnet. Das Theater Osnabrück setzte sich für Alex Nowitz’ und Ralph Hammerthalers „Bestmannoper“ ein. „Die Bestmannoper“ beschäftigt sich mit der Figur des 1912 im Burgenland geborenen Österreichers Alois Brunner. Brunner diente sich im Dritten Reich Adolf Eichmann an, der ihn als seinen „besten Mann“ bezeichnete. Der „Fall Alois Brunner“ ist vor allem durch die Dokumentation von Georg M. Hafner und Esther Schapira öffentlich gemacht worden, wobei sich der „Fall“ gleichsam in zwei Teile aufspaltet: Während des Dritten Reiches treibt Brunner über 120.000 Juden in den Tod, nach dem Krieg taucht er unter, entzieht sich geschickt allen Nachforschungen, führt die Justiz an der Nase herum, versteckt sich hier und da, zuletzt in Damaskus in Syrien, wobei allmählich offenkundig wird, dass die Staatsanwälte die Verfolgung der Spuren recht lasch betrieben. Außerdem wird Brunner auch politisch gedeckt, von arabischen Machthabern, denen Brunners Judenhass keinesfalls verwerflich erscheint, aber auch der amerikanische Geheimdienst kann ihn nach dem Krieg zeitweilig gut gebrauchen. In der Bundesrepublik lebt Brunner in den 50er- Jahren als Alois Schmaldienst in Essen, arbeitet als Kellner, Bergmann und als Lastwagenfahrer für die amrikanische Armee. Alte Kameraden aus SS-Zeiten, die es schafften, wieder in Dienste der Bundesrepublik zu gelangen, besorgen ihm Pass und Reisetickets, damit Brunner als Dr. Georg Fischer über Ägypten nach Syrien gelangen kann.
Als die syrische Polizei dem Waffenschieber Fischer auf die Spur kommt, gibt dieser sich als Judenjäger zu erkennen, worauf ein Polizeibeamter ihm die Hand geschüttelt haben soll: Deine Feinde sind auch unsere Feinde. Brunner wird beim syrischen Geheimdienst „Experte für Judenfragen“. Bei einem Anschlag verliert er ein Auge, später zerfetzt ihm eine Briefbombe des israelischen Geheimdienstes die linke Hand. Alois Brunner übersteht alles und wird nicht gefasst.
Die Darstellung dieser Verfolgungsjagd ohne Ergebnis könnte noch um zahlreiche abenteuerliche Details fortgeführt werden, und wären da nicht die Verbrechen im Dritten Reich, so würde die Aneinanderreihung der Vorgänge in einem schnelllaufenden Film ein hinreißendes Stummfilmkino ergeben: Wie ich die Polizei foppte. Mit Alois Brunner als ein anderer Buster Keaton. Schmächtig war Brunner ja auch. Aber da sind die toten Menschen, die unschuldigen Kinder, die Brunner noch bis zuletzt in den Tod schickte.
Wie lässt sich das auf die Bühne bringen und mit der bundesdeutschen Justizfarce, die sehr ärgerliche, bösartige Züge trägt, verbinden?
Alex Nowitz als Komponist und Ralph Hammerthaler als Librettist gingen ein hohes Risiko mit ihrer „Bestmannoper“ ein: Noch eine Betroffenheitsbekundung? Die Autoren erkannten, dass nur knappe, präzise Szenen, eine ebenso knappe, gemeißelte und rhythmisierte Sprache, eine sprunghafte Zeitstruktur für die Handlungsabläufe und eine gehärtete, griffige Musiksprache, die den brutalen Effekt eben-so beherrscht wie die ironisch-zynische Verfremdung, dem Komplex Brunner auf der Bühne beizukommen vermögen. Brecht und Weill scheinen im Aufriß der Szenen herein, aber Nowitz und Hammerthaler treiben in der makabren Zuspitzung und absurden Übersteigerung mancher Szenen die Vorgänge sehr nahe an unsere gegenwärtigen Nerven heran. Hinter den oft grotesk gezeichneten Figuren und Vorgängen dringt immer wieder die Realität durch: Nichts ist frei erfunden, auch wenn alles wie ein Albtraum erscheinen will. Die Verhaftungsszene des jüdischen Vaters, der seinen Sohn zwingt, sich im präparierten Kleiderschrank zu verstecken, nimmt einem fast den Atem. Die Wirtshausszene zu Beginn (auch die NSDAP begann im Bierkeller) geriet ein wenig länglich, mit der Musique concrete aus Gläserklirren, Stühleschieben und Rülpsern. Der Kindertransport mit idyllischer Spielzeugeisenbahn signalisiert nur den Zynismus, der sich hinter allem verbarg. Die Szenen, die nach dem Krieg spielen – Bestmann und sein Double Doppler unter Tage sich verbergend, die Neu-Maskierung beim Friseur, die Flucht nach Damaskus, das Andienen an das dortige Regime und dazwischen eingeblendet eine apathisch-träge deutsche Justiz – sie wirken überzeugend, weil dahinter eine unheilvolleWirklichkeit steht. Die Osnabrücker Aufführung gewinnt aus Genauigkeit der Beobachtung und gestischer Präzision eine große Dichte: Regie Immo Karaman, Ausstattung Timo Dentler und Okarina Peter. Das Orchester unter Till Drömann agiert klangscharf und engagiert. Großes Engagement auch bei den Sängern: Mark Bowman-Hester als Bestamann, Genadijus Bergorulko als Doppler und Christoph Nagler als Jaccuse ragen hervor. Die Zusammenarbeit der Osnabrücker Oper mit der Rheinsberger Opernwerkstatt bescherte dem Musiktheater ein wichtiges Werk für eine aktuelle Zeitoper.