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Gejagte Formen, gejagte Tänzer, perfektes Ensemble Modern: Sasha Waltz hat Wolfgang Rihms Komposition „Jagden und Formen“ für ihre Tanz-Companie choreografiert. Fotos: Charlotte Oswald
Gejagte Formen, gejagte Tänzer, perfektes Ensemble Modern: Sasha Waltz hat Wolfgang Rihms Komposition „Jagden und Formen“ für ihre Tanz-Companie choreografiert. Fotos: Charlotte Oswald
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Eine Musikfestwiese für einen Komponisten

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Die Salzburger Festspiele entdecken den sechsten Kontinent: Wolfgang Rihm
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Unübersehbar ragt Wolfgang Rihms hohe Gestalt, der markante Kopf mit der hohen Stirn und dem wild kruscheligen Haar über die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung hinaus, auch über die meisten Musiker, die neben ihm stehen, wenn er sich auf dem Podium für den Applaus artig verbeugt. Wolfgang Rihm hatte für diesen Auftritt bei den diesjährigen Salzburger Festspielen ungewöhnlich häufig Gelegenheit. Hatte für ihn doch der für die Konzertgestaltung der Festspiele zuständige Markus Hinterhäuser einen eigenen „Kontinent“ entdeckt, auf dem sich Rihms auf Bach-und Mozart-Dimensionen angewachsenes Werk von über vierhundert Opuszahlen – wenn er sie denn kontinuierlich notieren würde – erschöpfend, wenn natürlich auch nur punktuell, ausbreiten durfte.

Ausgangspunkt dieser umfassenden Rihm-Hommage war die Uraufführung der neuen Rihm-Oper „Dionysos“, die allerdings nicht auf dem „Kontinent Rihm“ stattfand, sondern im Großen Festspielhaus zur repräsentativen Eröffnung des Salzburger Festivals. Über die Aufführung berichtet auf den vorhergehenden Seiten unser Mitarbeiter Gerhard R. Koch, der die Aufführung zum Anlass nimmt, sowohl die Situation der Salzburger Festspiele als auch die Positionierung Wolfgang Rihms in der Neuen Musik kritisch zu beleuchten.

Der „Kontinent Rihm“ umfasste insgesamt zehn Konzerte, ferner vier „Exegesen Rihm“ sowie eine „Schule des Hörens“ mit Wolfgang Rihm, bei der sich der Komponist als eloquenter Unterhalter mit, selbstverständlich, immenser Fachbezogenheit präsentierte, so dass der Musikkritiker und nmz-Mitarbeiter Florian Fuchs in einer Kritik in den „Salzburger Nachrichten“ leicht spaßeshalber anregte, für Rihm im Fernsehen eine eigene Talkshow einzurichten. Warum eigentlich nicht? Das könnte der Neuen Musik, der Musik überhaupt, nur nützlich sein, und dem Fernsehen einen wünschenswerten Qualitätszuwachs bringen.

Die Veranstaltungen des „Kontinent Rihm“ fanden vorwiegend in der restaurierten Kollegienkirche statt, einem wunderbaren, auch akustisch sorgfältig präparierten Raum, in dem schon zur Mortier-Zeit eindrucksvolle Aufführungen gelangen, unter anderem Luigi Nonos „Prometeo“. An den damaligen Erfolg möchte Salzburgs Interims-intendant Markus Hinterhäuser bei den Festspielen 2011 anknüpfen: Ein neuer „Prometeo“ in der Kollegienkirche ist geplant, neben Salvatore Sciarrinos „Macbeth“, der wiederum korrespondiert mit Verdis „Macbeth“-Oper, die Peter Stein inszeniert und Riccardo Muti dirigiert. So sieht eine sinnstiftende Programmierung aus.

Eine solche „Sinnstiftung“ prägte auch die einzelnen Programme der zehn „Kontinent“-Abende: Rihms Werke erschienen fast immer in Korrespondenzen zu anderen Komponisten, die für Rihms Komponieren, sei es direkt oder indirekt, wichtig geworden sind. Damit nun nicht der Eindruck entsteht, Rihm „kupfere“ eben mal so andere Stücke ab: Es handelt sich bei jedem einzelnen dieser Werke nicht um Adaptionen, vielmehr um Anverwandlungen, Fortführungen, auch Rückgriffe in einem Bewusstsein, dass mit der Vergangenheit nicht bricht, sondern sie als logische Voraussetzung einer geschichtlichen Kontinuität erkennt: Die Unteilbarkeit unserer abendländischen Musikgeschichte.

Schon das Eröffnungskonzert des „Rihm-Kontinents“ öffnete die Perspektiven: Rihms „Tutuguri“ wurde kombiniert mit Darius Milhauds sieben Bühnenmusiken zu Aischylos’ „Choephoren“. Milhaud schrieb diese Bühnenmusiken in den Jahren 1915/16. Nimmt man diese Entstehungszeit, so überrascht doch in manchen Passagen der progressiv angeraute, rhythmisch erregte rezitativische Tonfall, der versucht, den antikischen Sprechrhythmus zu adaptieren. Eine gewisse klassizistische Gestik im Klanggeschehen ist nicht zu überhören, aber sie erweckt nirgends den Eindruck des Antiquierten, im Gegenteil: Man spürt im Klang die Nerven, die Erregung, die Energie, die nötig ist, um das Emotionale zu bändigen. Ingo Metzmacher und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin machten das in ihrer ausgefeilten, kraftvollen Darstellung eindringlich deutlich.

Danach das „deutsche Gegenbild: Rihms „Tutuguri“, 1980/1982 als „Poème dansé“ komponiert, aber auch ohne Tänzer hinreichend anschaulich. Zurückprojiziert auf seine Entstehungszeit liegt das Werk für Sprecher, Chor und großes Orchester wie ein erratischer Block inmitten einer Komponierlandschaft, in der ausgeklügelte Klangerkundungen und eine starke Abneigung gegen rhythmische Entfesselungen dominierten. In Salzburg geriet jetzt das Werk zum einhelligen Erfolg, was sicher auch an der zwingenden Darstellung durch das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Metzmacher, sowie im letzten der vier Werk-Teile dem hochvirtuosen „Percussive Planet Ensemble“ mit dem jungen österreichischen Star-Schlagzeuger Martin Grubinger zu danken war. An Ausdrucksgewalt, Ungebärdigkeit und Energieentfesselung hat Rihms „Tutuguri“ bis heute nichts von seiner furiosen Wirkung verloren.

Eine „Tutuguri“ vergleichbare, unmittelbare expressive Entfesselung ist Wolfgang Rihm fast drei Jahrzehnte später mit dem musikalisch-choreografischen Projekt „Jagden und Formen“ gelungen. In Salzburg zeigte (auf der Bühne der Pernerinsel in Hallein) die Sasha Waltz & Guests-Truppe ihre tänzerische Umsetzung der musikalischen Vorlage. Rihms Musik erreicht in den grandiosen, unablässigen Steigerungen, den markanten Blechbläserattacken, den unablässigen Bewegungswechseln eine geradezu körperliche Präsenz, die nach physischer Umsetzung verlangt. Die Sasha-Waltz-Tänzer und Tänzerinnen nehmen die Herausforderungen der Musik bewundernswert an, rollen, drehen, springen, winden und verknoten sich bis zur Erschöpfung, angetrieben vom Ensemble Modern, das unter Frank Ollus’ Leitung mit einer staunenswerten Perfektion Rihms Vertracktheiten mit der Leichtigkeit einer kleinen Nachtmusik meistert.

Neben der Opernuraufführung  konnte Wolfgang Rihm verständlicherweise nicht auch noch eine Novität für den „Kontinent“ beisteuern. Das war auch nicht die Absicht des Komponisten und von Markus Hinterhäuser. Gezeigt werden sollte vor allem die Perspektivenvielfalt von Rihms Schaffen sowie die ebenso vielgestaltigen Korrespondenzen zum Schaffen anderer Komponisten. Hier sollen nur einige der weiteren Höhepunkte der Kontinent-Konzerte hervorgehoben werden. Da wäre die Interpretation von Rihms „Musik für drei Streicher“ aus dem Jahr 1977 mit den vorzüglichen Spielerinnen des „trio recherche“ Melise Mellinger (Violine), Barbara Maurer (Viola) und Asa Akerberg (Violoncelo), die die drei hoch differenzierten Sätze der Komposition perfekt darstellten. Rihms Auseinandersetzung mit Beethovens späten Streichquartetten ist kein Einzelfall, schon Schönberg hat in seinem Streichtrio von 1946 auf Beet-hoven zurückgegriffen. Es ist die Verbindung von „Rausch und Ratio“ (ein Titel der „Musik der Zeit“-Konzerte im Westdeutschen Rundfunk), die heutige Komponisten immer wieder anzieht, die kontrollierte Freiheit, die sich der späte Beethoven nimmt, um seinen Ausdruckswillen in die entsprechende Form zu bringen. Auch Rihm greift nach dieser Freiheit und verschmilzt Ausdruck und Form zu einer überzeugenden Einheit. Wolfgang Rihm hat im Verlauf der Jahre immer stärker auch die Wichtigkeit der musikalischen „Linie“, des Melodischen, des Gesungenen adaptiert. Auch hierfür fanden sich entsprechende Werke im Programm. Die Geigerin Anne-Sophie Mutter spielte mit berückender Tongebung die ihr gewidmete „Gesungene Zeit – Musik für Violine und Orchester“ (1991/92), luxuriös begleitet von den Wiener Philharmonikern unter Riccardo Chailly. Die „Wiener“ nahmen sich auch mit der ihnen eigenen Klangkultur dem „Ernsten Gesang“ von 1996 an, dessen Brahmsnähe die Verbindung zum zweiten Konzertkomplex der Festspiele, den „Brahms-Szenen“ herstellte. Das Rihm-Opus war umgeben von Kompositionen Robert Schumanns, ein weiterer Komponist, zu dem Rihm eine starke Affinität besitzt. Unter Christoph Eschenbachs inspirierender Leitung musizierte das Orchester eine begeisternde zweite Sinfonie von Schumann. Rihms Schaffen verzichtet auch nicht auf ein so traditionsreiches Genre wie das Streichquartett. Die stilistischen Unterschiede zwischen einzelnen Werken sind dabei bemerkenswert groß. Auf das radikale Streichquartett Nr. 5 „Ohne Titel“ (1981/83) folgte in Salzburg das beruhigte „Zehnte“ aus den Jahren 1993/97. Beim Arditti Quartet befanden sich beide Werke in den zuverlässigsten Händen.

Um die thematische Vielfalt des „Kontinent Rihm“ annähernd zu spiegeln, seien einige Programme angeführt. In einem Konzert mit dem Hilliard Ensemble und dem SWR Vokalensemble hörte man neben Rihms „Quid est Deus – Cantata Hermetica“ von 2007 fünf „Tenebrae-Responsorien“ von Carlo Gesualdo und, gespielt vom SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter Sylvain Cambreling, Klaus Hubers „Tenebrae“ für großes Orchester, komponiert 1966/67. Im dritten „Kontinent“-Programm korrespondierten Werke von John Dowland, Anton Webern und Karlheinz Stockhausen („Kreuzspiel“ von 1951) mit Rihms „Ricercare – Musik in memoriam Luigi Nono“ und der „Chiffre II – Silence to be beaten“ von 1983, beides glänzend gespielt vom Klangforum Wien unter Emilio Pomárico.

Das Hilliard Ensemble, das Rihms „Et lux“ für Vokal- und Streichquartett im vergangenen Jahr in Köln uraufgeführt hatte, brachte die Aufführung, wieder mit dem Arditti Quartet, auch nach Salzburg – das dicht komponierte Werk hinterließ auch hier einen starken Eindruck.

Versäumen mussten wir leider ein interessantes Konzert, wiederum mit dem Klangforum Wien unter Cambreling, in dem Rihms „Séraphin-Sphäre“ mit den „Freien Stücken“ von Jörg Widmann und Morton Feldmans „For Samuel Beckett“ umrahmt wurde. Der Österreichische Rundfunk hat dieses Konzert, wie auch einige andere des „Kontinent Rihm“ aufgezeichnet und strahlt es am 30. August 2010 um 23.03 in Ö 1 aus. Da werden wir nachsitzen.

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