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Luigi Nono hat sich über seine zweite Oper, genauer: seine Azione Scenica „Al gran sole carico d’amore“ (Unter der großen Sonne von Liebe beladen), später scheinbar abschätzig geäußert –sie sei ein Elefant der Mittel. Alle, die damals in Verkennung der Wirklichkeit die Läuterung des kommunistischen Agitators Nono zum sensiblen Klangexegeten feierten, sahen sich bestätigt: „Al gran sole“ wurde zum Agitprop kleingeredet, auch von solchen, die das Stück kaum oder nur teilweise kannten.
Was Luigi Nono gemeint haben dürfte, erschließt sich heute genauer. Seine kompositorische Entwicklung war zur Zeit der Uraufführung von „Al gran sole“ (1975) schon über den Stand des Werks hinausgeschritten. Ja, der Akt der Komposition selbst stellte sich als Rückblick dar, als Resümee und Überhöhung vor allem der in den aufgewühlten 60er Jahren erarbeiteten Techniken. Er ist Zusammendenken in Zeiten, als Nono für sich die Notwendigkeiten verdichtender Reduzierung erahnte oder erkannte. So wie in der Phase zwischen 1960 und 1975 konnte und wollte er nicht mehr schreiben, die Zeit – und wohl kaum ein Komponist hatte ein sensibleres Ohr für deren Konditionen – hatte andere Normen gesetzt. Das Stück wurde verdrängt, man glaubte, es als Propagandawerk dem Vergessen überantworten zu können. Spätestens seit der jetzigen Stuttgarter Aufführung freilich ist ihm die Würde widerfahren, die es verdient. Zunächst einmal fand eine grundlegende Korrektur statt. „Al gran sole“ ist ein großartiges Werk der Trauer, es ist Requiem oder Passion. Kein Zitat revolutionären Liedguts, sei es die Internationale oder eine Melodie des gescheiterten russischen Aufstandes von 1905, verliert diese grundlegende Haltung aus den Augen. Die verwendeten Zitate sind Zeitzeugen, sie geben historische Positionen wieder. Und sie verpacken eine Utopie, die angesichts der Niederlagen den Auftrag zum Weiterdenken impliziert. Sonne und Liebe, diese im Titel geborgenen Marksteine, sind nicht Wirklichkeit geworden. In der szenischen Aktion „Al gran sole“ gibt es keine Handlung, aber alles bewegt sich um einen Punkt: die gescheiterten proletarischen Aufstände. Man kann, entsprechend den zwei Teilen des Werks, von zwei Zentren sprechen, der Pariser Commune und den russischen Erhebungen 1905. Nono stellt Texte zu diesen geschichtlichen Ereignissen zusammen und collagiert sie mit weiterem Textmaterial zu anderen revolutionären Ereignissen (Kuba, Vietnam, letzte Briefe Gramscis aus dem faschistischen Gefängnis et cetera). Die Personen auf der Bühne verlieren durch diese Überlagerungen ihre Identität, sie gehen in einen Prozeß ein, der in immer anderen Gestalten ähnliche Handlungsstränge zwischen den Polen Unterdrückung und Widerstand hervorbringt. Ebenso verfährt die Musik, ihr Ineinander von Soli, Chor, Orchester und eingespielten Tonbandpassagen. Sie zerschneidet die Materialien und fügt sie neu, sie reflektiert, nimmt Partei, zitiert Arbeiterlieder – freilich nie ungebrochen und in unterschiedlichen Kenntlichkeitsgraden. Alles aber ist gekleidet in den unverwechselbaren Ton Nonos, der aus dem Gesang kommt. Darauf beharrt er, und er stellt es als Zitat Che Guevaras gleich an den Anfang des Werks: „Die Schönheit setzt sich der Revolution nicht entgegen.“ Und die Revolution nicht der Schönheit, möchte man ergänzen. Fast sieht es so aus, als sei „Al gran sole“ angetreten, um dafür den Beweis zu liefern. Freilich ist es, wie jede wirkliche Schönheit, zunächst eine fremde, eine unvertraute.Wie so oft ist es Nonos Vorliebe für die Frauenstimmen (im Zentrum: vier Soprane und ein Alt), die die ganze Musik prägt – herausragend der mehrere Personen verkörpernde Solo-Sopran von Claudia Barainsky. Es ist Musik, deren Schönheit an der Wirklichkeit gebrochen wird, am Beklemmenden, am Tragischen, am Fatalen. Und in dieser Dialektik nimmt sie eine ganz unmittelbare Wucht an; eine Wucht, die auch nicht durch den Hinweis auf den Niedergang der sozialistischen oder scheinsozialistischen Systeme gemindert werden kann. Die Frage, ob „Al gran sole“ heute noch „zeitgemäß“ sei, ist ebenso unsinnig, als sei sie in bezug auf Bachs Matthäuspassion gestellt. Wohl noch mehr als bei „Intolleranza“ leistete Stuttgarts Oper Großes. Die Regie (Martin Kusej) entwarf ein Szenario aus herumliegenden Pappschachteln, gleichsam aus Gegenwartsmüll, in das die Aktionen als Erinnerungsbilder, als historisches Gedächtnis eingespannt sind. Intelligent sparsam sind diese Mittel, immer der Musik, ihrer collagierten Überfülle, Raum lassend. Erst gegen Schluß werden die Bilder drastischer, weisen angesichts beklemmend ins Bild gebrachter faschistischer Massenvernichtung auf die Möglichkeit, daß die Utopien zu keiner Erfüllung gelangen könnten. Und mit dem GMD Lothar Zagrosek hat man einen Mann am Haus, der sich der überaus anspruchvollen Partitur in allen Belangen gewachsen zeigte. Hervorragend das Orchester, noch entschiedener aber wäre die Leistung des Chors zu würdigen, der als Verkörperung der revolutionären Masse eine zentrale Rolle in „Al gran sole“ innehat. Eine große Arbeit, die in Stuttgart vom Publikum außergewöhnlich gewürdigt wird. Zu Recht, geht es doch um ein ganz zentrales Werk des Musik-theaters in unserem Jahrhundert.