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„ensemble 20/21“ unter David Smeyers mit Cage, Brown, Crawford Seeger und Wolff. Foto: DLF / T. Kujawinski
„ensemble 20/21“ unter David Smeyers mit Cage, Brown, Crawford Seeger und Wolff. Foto: DLF / T. Kujawinski
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Eine Sternenkarte für die Suche nach dem Unmöglichen

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Das „Forum neuer Musik“ im Deutschlandfunk kreiste um die Schlüsselgestalt Cage
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Das Centenarium des Komponisten John Cage (1912–1992) wirft seine Schatten voraus. Was es uns bescheren wird an Cage-Ehrfurcht, Cage-Erstaunen, Cage-Engagement – davon lieferte die jüngste Ausgabe des „Forum neuer Musik“ im Kölner Deutschlandfunk einen Vorgeschmack. Mit dabei, glücklicherweise, jede Menge offene Fragen. Darunter auch solche, die den Finger schon einmal vorausschauend unmissverständlich in die Wunde legen.

„Warum hören die Deutschen so viel Feldman und Cage?“ Es gibt Fragen, die so verstörend treffsicher sind, dass sie noch im schönsten Workshop aus Musik, Vortrag und Roundtable mehr oder minder höflich umschifft werden und am Ende unbeantwortet liegen bleiben. Diese gehörte dazu. Dabei hatte Dirigent David Smeyers von der Hochschule für Musik und Tanz Köln, mittlerweile wichtigster Kooperationspartner für den Forum-Veranstalter Deutschlandfunk, ausgerechnet zu extra großen Lettern gegriffen, um der Hochschul-Matinee zur US-amerikanischen Musik-Avantgarde Titel, Richtung und Linie zu geben. Laborieren „die Deutschen“ an einer Überdosis Feldman- und Cage-Konsum? War da was, ist da was?

Passenderweise ließe sich gleich ein anderes Fragezeichen hinzusetzen, das Festival-Kurator Frank Kämpfer im Programmheft wie in seinen einführenden Konzert-Anmerkungen, mit ungewohnt gehobener Bühnenstimme, fett markiert hatte. „Ist Cage noch Gegenwart oder Geschichte – und also frei, um neu entdeckt zu werden?“ Eigentlich eine ganz normale Perspektive für jemanden, der das Geschehen in Musik und Gesellschaft mit den Theater-Augen eines Peter Konwitschny zu betrachten gelernt hat. Andererseits signalisierte das spitze Wort von den „Lordsiegel­bewahrern“ doch auch, dass Kämpfer im Fall des John Milton Cage etwas anderes vorschwebt als das Abfeiern, respektive Abspulen von Kodifiziert-Sanktioniertem. So einleuchtend dies scheint, an der künstlerischen Bilanz des Festivals selbst war ablesbar, dass hier doch noch einiges zu leisten ist, wies die Tendenz von vier hochkarätigen Ensemblekonzerten und einem auf vier Abende aufgeteilten Solokonzert doch entschieden in beide Richtungen.

So gesehen erbrachte das Kölner Forum-Wochenende im Schatten der spektakulären Stockhausen’schen „Licht“-Uraufführung (der Neue-Musik-Freund musste sich entscheiden), eine erste Standort­bestimmung in Sachen Cage vor seinem Super-Jubeljahr, inklusive eines unvermeidlichen Realismus’. So gern man etwa der Einladung der Hochschule gefolgt war – am Ende stellte sich heraus, dass die Zeiten entschiedenen Thesen-Muts, wünschenswert nicht nur in Cage-Angelegen­heiten, offenbar vorbei sind. Ausgewie­sene Experten, selbst die Autoren einschlägig-quellen­gesättigter Studien wie die US-amerikanische Musikwissen­schaft­­lerin Amy C. Beals­* mussten passen. Warum die Deutschen so viel Feldman und Cage hören? Gute Frage! – Sicher, besagtes Achselzucken hat gewiss auch damit zu tun, dass die Achterbahnfahrt der Cage-Rezeption rein musikwissen­schaftlich kaum zu fassen ist. Weshalb Cage hierzulande erst als Avantgardist stümisch begrüßt, zwischenzeitlich als Scharlatan gebrandmarkt, heute als Klassiker verehrt wird, gehört zu jenen Rätseln der jüngeren Kunstentwicklung, die weit ins gesellschaftlich-mental Verfasste ausgreifen.

„Unmögliches“ möglich machen

Glücklicherweise, das konnte man schon hören während dieser mittlerweile elften Kölner Forum-Ausgabe, sind es doch vor allem die ganz jungen Musiker, für die John Cage erstens „historisch“ und damit zweitens „frei“ ist, „um neu entdeckt zu werden“. Andere taten sich schwerer – was man auch hören konnte. Dabei hatte Cage selbst hinreichend deutlich auf den Punkt gebracht, worauf sein Komponieren abzielt, was es in Gang setzen möchte. Wird, so war er der Meinung, in der Kunst das „Unmögliche“ versucht, ist auch im Leben alles „möglich“. Aus dieser Überzeugung heraus hat er mit den „Etudes Australes“ für Klavier eines seiner anspruchvollsten, im Sinne seines lebensreformerischen Anarchismus eben eines seiner unmöglichsten Werke geschrieben: 32 Stücke, gruppiert in vier Büchern zu je acht Etüden, abgeleitet aus dem „Atlas Australis“, einer Sternenkarte für den Himmel über dem Pazifik. Eine Klavierkomposition als zufallsoperationales Gewusel aus Einzeltönen und Tonklumpen ohne Angaben zu Metrum, Dauer, Dynamik, Tempo, Artikulation. Vorschriften gibt es nur zwei: Die Hände dürfen sich nicht helfen und – aus den Punkten auf Papier soll Leben werden, „Musik, die ich nie zuvor gehört habe“, hatte sich Cage erhofft, wozu er natürlich einen „außerordentlichen Virtuosen“, einen Prometheus der schwarzen und weißen Tasten brauchte, einen oder eine, der oder die imstande ist, den Himmel auf die Erde zu holen, auf dass wir Zaudernden ein „Muster“ hätten, um es ihm oder ihr gleichzutun.

Von daher die Spannung, mit der die Live-Komplett-Aufführung der „Etudes Australes“, die Perfor­mance des „Unspielbaren“ durch die Münchner Pianistin Sabine Liebner erwartet wurde. Was die vielfach ausgezeichnete Künstlerin an den vier Kölner Forum-Abenden demonstrierte, war dann genau dies: Das Unmögliche wurde möglich und – schönste Dialektik der Aufklärung – verschwand. Die titanische Aufgabe vollbracht, doch um den Sternenklang, um den gestirnten Himmel, um das kosmi­sche Rauschen im Deutschlandfunk-Kammermusiksaal war es geschehen. Die Pianistin, die so mutig war, es mit dem Größten aufzunehmen, konfrontierte uns nicht mit ihm, sondern mit der List ihrer Vernunft. Schon der erste Etüden-Teil war mit weit über einer Stunde gestreckt, als ob über die Schluchten des Himalaya tausend Scherpa-Brücken gelegt wären. Grete Sultan, für die Cage sein Mammutwerk 1974/75 geschrieben hatte, hatte den Anstieg ins erste Zwischenlager noch in der Hälfte der Zeit geschafft. Ein Vergleich, der an dieser Stelle auch deshalb angebracht ist, weil das Festival kongenial mit einem von Jean-Claude Kuner bewegend kompo­nierten Radio-Feature über die aus Berlin emigrierte Künstlerin seinen Anfang genommen hatte. Ein Maßstab war gesetzt. Hier also ein Gipfelsturm entlang der via direttissima, dort breite Kehren, hier eine Grete Sultan, die Cages’ Punkt-Komposi­tion ausliest wie eine Mozart- oder Beethoven-Sonate, dort letztlich allzu risiko­scheues Sich-Verlassen auf einen „klassischen Text“. Mit dem Ergebnis, dass der Gestus von „Unmöglichkeit“, von „Unspielbarkeit“ im Intentionalen hängen blieb und uns schlussendlich dämmerte, was wir schon wussten: Die Sterne sind weit weg und gehen uns nichts an.

Bündnispartner, Eleven

Anders der durchkomponierte Auftritt von „ensemble 20/21“, das sich vom Status eines bloßen Studentenorchesters mittlerweile emanzipiert hat – zweifellos ein Verdienst von David Smeyers, der seine Kölner Professur Ensembleleitung Neue Musik in den letzten Jahren in produktivster Weise ausgebaut und sich auch damit dem DLF-Forum als im Grunde nicht mehr wegzudenkender Partner empfohlen hat. Gewiss waren mit „ensemble modern“, „Ensemble Ascolta“ und „e-mex ensemble“ profunde Mitspieler der Extraklasse vor Ort. Andererseits brauchten sich die Smeyers-Eleven nicht zu verstecken, als sie in ihrem Konzert mit John Cage, Earle Brown, Carl Ruggles, Ruth Crawford Seeger, Morton Feldman, Christian Wolff die Creme der New-York-School versammelten und ihre semesterübergreifende Forschungsarbeit öffentlich machten – inklusive eines für ein Forum neuer Musik unerlässlichen I-Tüpfelchens: Mit dem ehemaligen Schöllhorn-Schüler und nochstudierenden Koreaner Myunghoon Park verhalf „ensemble 20/21“ einem ganz und gar Unbekannten zu einer bemerkens­werten Premiere auf einer großen Bühne. Das Verspielte, das so typisch ist für die ganz jungen und jüngsten angehenden Komponisten, hat bei Park einen kraftvollen Zug. „Jam“ nennt er seine zwischen Stockung und Lösung taumelnde Komposition aus draufgängerisch perkussiver Repetition und chromatisch geführten Glissandi. Ein Aufmerksamkeits­erfolg.

Weitere Kompositionsaufträge gingen ans Avantgarde-Urgestein Rolf Riehm, an die, gemessen an Anspruch und Qualität, viel zu wenig bekannte und gespielte Essener Komponistin Karin Haußmann, an die junge Kanadierin Annesley Black, an den Türken Enver Yalcin Özdiker sowie an die Kasachin Jamilia Jazylbekova, auf deren Vita das Festival-Motto „Goes Germany!“ tatsächlich zutrifft. Einfach bewunderns­wert, wie hier ein künstlerisch-emanzipatorischer Weg von Almaty über Moskau nach Bremen zu Younghi Pagh-Paan beschritten ist; ein Weg, auf dem Jazylbekova das Naturhaft-Jahreszeitliche, das latent Folkloristische ihrer asiatischen Heimat in ein Neue-Musik-Idiom übersetzt hat. Im glänzend disponierten „ensemble modern“ unter Kasper de Roo hat die Komponistin einen wunderbaren Partner gefunden, der ihr Porträtkonzert bis in den letzten, quasi-impressionistisch verduftenden Hauch der „Nuit de mars“ unter Spannung hielt. Passendes Stichwort auch für das Bündnis, das die Ruhrgebiet-Formation „e-mex ensemble neue musik“ und die Essener Komponistin Karin Hauß­mann geschlossen haben. An der gelös­ten Art, wie e-mex Haußmanns ältere „Zwei Sätze für Klavier und Ensemble“ musizierte, konnte man sie hören, die Frucht einer jahrelangen Partnerschaft aus Geben und Nehmen. Wie sehr es der Komponistin einerseits zu tun ist um Wiederaneignung eines erfüllten Orchestersatzes inklusive der Idee konzertierender, hier zwischen Normal-Temperierung und Naturflageoletts schwebender Solo-Instrumente, zugleich aber auch um das, was Anton Webern „Fasslichkeit“ genannt hatte, war ablesbar an ihrem Wunsch, ihr neues Werk „Vier Sätze für Akkordeon und Violoncello“ – Baustein einer Kompositionsfamilie – eben in die Nachbarschaft von Webern und dessen op. 24 zu platzieren. Ein tastender, dem Eindruck neuer spätpostmoderner Beliebigkeit entgegensteuernder Versuch, Anschluss zu gewinnen an das, was Neue Musik einmal war und wollte. Auch dafür war das Forum neuer Musik im Deutschlandfunk eine gute Bühne und e-mex ein famoser Partner.

Dass schließlich, Stichwort Bilanz, unter allen neu vorgestellten Arbeiten letztlich ausgerechnet die Riehm’sche als Ausfall abzubuchen war, hätte man so gewiss nicht vermutet. Und doch – so verdienstvoll dessen Ehrenrettung für den vom Weimarer Dichterfürsten Goethe abservierten, in Moskau zu Grunde gegangenen Sturm-und-Drang-Poeten Jakob Michael Reinhold Lenz auch war – ein aus dem Off abgelesenes Vortragsmanuskript wirkte zu der von Ascolta souverän exekutierten Bühnenmusik wie übergestülpt. Als Vorstufe zu einer Lenz-Oper von, in diesem Fall, Rolf Riehm, war dieses „Melodram in 5 Schüben“ vielver­sprechend; als Kammermusik blieb es ein Torso, ein Genre-Zwitter. Freilich ließ sich der Komponist nicht lumpen und hatte noch einen Trumpf in der Hinterhand. Mit „aprikosen­bäume gibt es, aprikosen­bäume gibt es“ für Ensemble und CD-Zuspielung war er wieder da, der alte Riehm, der, der im DLF-Roundtable „Chance von Einzelwegen“ (zusammen mit der Kölner Gesellschaft für Neue Musik e.V.) sein Sich-nicht-verbiegen-lassen so überzeugend an die Jüngeren weiterge­reicht hatte. Versöhnend dieser Forum-Abschluss, diese Hommage an die verstorbene ­dänische Poetin Inger Chris­tensen, deren brüchige, eigentümlich singende Stimme wir, auch wenn nur aus dem Off, so gern wieder einmal gehört haben.

* Amy C. Beals: New Music – New Allies. American Experimental Music in West Germany from the Zero Hour to Reunification, University of California Press, 2006

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