Wagners Gesamtkunstwerke zeichnen sich nicht nur durch ein hohes Maß an Komplexität aus, sondern verlangen von Regisseur und Publikum Einfühlungsvermögen und Geduld. Wenn dann mit dem Ring des Nibelungen ein musikalischer Gesellschaftsentwurf an vier Abenden verwirklicht werden soll, kommt dazu noch ein notwendig langer Atem aller Beteiligten. Dass das Pläne machen das Eine, die Lebensläufe aber ein anderes sind, mussten die Münchner Verantwortlichen bei ihrer jüngsten Ringproduktion schmerzlich erfahren: Der für die Regie veranwortliche Herbert Wernicke verstarb mitten in der konzeptionellen Arbeit an der Walküre und jeder, der nun das Werk fortsetzen wollte, hatte mit diesem Handicap zu leben.
Es ist also dem Amerikaner David Alden nicht hoch genug zu danken, dass er eine Komplettierung des Rings ermöglichte. Wurde bei Walküre noch nach den fast fertigen Plänen Wernickes produziert, so sah man im Siegfried die Handschrift Aldens bereits durchschimmern. Freilich blieb vieles noch unvermittelt und zusammenhanglos. Um so deutlicher setzt der Regisseur in der Götterdämmerung nun seine Sichtweisen und Bilderwelten von Wagners Untergangsvisionen in Szene. Diese Götterdämmerung ist bei allem poppig, comichaftem Klamauk ein düsteres Endzeitstück geblieben, das am Vorabend eines aufziehenden Krieges eine besondere Symbolik ausstrahlt.
Dass Alden sich in erster Linie mit der Figur der Brünnhilde beschäftigt, liegt nahe. Ist sie es doch, die sich an diesem letzten Abend der Tetralogie von der liebend anhänglichen Gefährtin zur elektrahaften Rächerin und weiter zur einfühlsamen modernen Frau entwickelt. Die Emanzipation der männermordenden Walküre zur Bubikopf tragenden Intellektuellen muss in München wohl zwischen dem Siegfried und der Götterdämmerung stattgefunden haben. Wir sehen Brünnhilde und Siegfried im gemeinsamen Schlafzimmer, ausgestattet mit allen Accessoires spätbürgerlicher Intellektualität. Brünnhilde auf der Suche nach sich selbst als kettenrauchende Chefredakteurin eines dieser bunten Societyblätter: das eigene Ende als spannender Fortsetzungsroman.
Daneben ein Siegfried, dessen gesellschaftlicher Aufstieg vom Umweltrevoluzzer zum anzugtragenden Superstar hintersinnig an so manchen Politiker der Berliner Politik erinnert. Brünnhildes Gegenspieler freilich ist der Hagen des in jeder Sekunde souverän agierenden Matti Salminen. Er ist die graue Eminenz im Hintergrund, der Stippenzieher und Spin-doctor, der abwechselnd Gunter (Juha Uusitalo) und Siegfried (Stig Andersen) souffliert. Die Gegenwart ist präsent, Wagner im 21. Jahrhundert angekommen; aber die Bildsprache Gideon Daveys (Bühne und Kostüme) mag immer wieder und immer noch verstören. Wenn Alberich im Zwiegespräch mit Hagen sein „Schläftst du, Hagen mein Sohn?“ singt, so sehen wir statt seiner eine weiße Ratte und folgerichtig beherrschen Ratten die Schlussszene, in der Alberich der einzige Überlebende ist. Dass Alden den neuen Menschen Wagners nicht traut und den Ratten das Feld überlässt, mag kritisieren, wer tatsächlich anderer Meinung ist.
Musikalisch lag der Abend in den bewährten Händen von Zubin Mehta, der das Bayerische Staatsorchester über sechs Stunden mit hoher Professionalität über alle Klippen der Wagnerschen Partitur leitete und dabei stets dafür Sorge trug, dass trotz des ernomen Orchesterapparats, den Solisten genügend Raum zur musikalischen Entfaltung bereitstand. Neben Gabriele Schnaut als wagnererprobter Brünnhilde überraschte der dänische Tenor Stig Anderson mit einem über weite Strecken lyrischen Siegfried. Besondere Anerkennung erhielten Margarita De Arellano, Ann-Katrin Naidu und Hannah Esther Minutillo als Abendkleid tragende Rheintöchter, deren Charme Siegfried beinahe erlegen wäre. Die Reaktionen des Publikums ähnelten denen der vorangegangenen Neuproduktionen. Und wer sich keine Meinung bilden wollte, konnte bereits Wochen vor der Premiere im Internet lesen, dass auch diese Inszenierung durchzufallen habe. David Alden jedenfalls, der die Walküre noch einmal inszenieren und so den Ring komplettieren wird, ist es mit seiner Interpretation der Götterdämmerung gelungen, die Bedeutung Münchens als Wagnerstadt nachhaltig zu verteidigen.