Bert Nogliks Programm in seinem zweiten Jahr als künstlerischer Leiter des Jazzfests Berlin ist besser gewesen, als er es selbst vermuten konnte. Die PR nötigt ihm zwar noch die Herausstellung von Akzenten ab, damit man so eine Veranstaltung auch würdig verkaufen kann, aber im Prinzip ist das nur Augenwischerei. Es gab angeblich einen Afrika-Akzent, es gab angeblich einen Große-Formationen-Akzent: Es gab also angeblich, was es sowieso gibt. Nur hatte man ein Bapperl drauf gemacht. Nein, es gab vor allem Abwechslung und untergründig viele Beziehungen zwischen den Auftritten. Entweder hat Noglik einfach nur ein gutes Händchen oder er kann es einfach. Nehmen wir letzteres an.
Zu den Stärken des diesjährigen Jazzfestes gehört zweifellos, Musik aus denkbar verschiedenen Jazz-Szenen und Alterszuständen zusammengebracht zu haben. Pharoah Sanders, Fred Wesley, Jack DeJohnette, Ernst-Ludwig Petrowsky, Joachim Kühn, John Scofield auf der einen Seite, Christian Scott (und seine Musiker), Monika Roscher, Michael Wollny und andere auf der anderen Seite. Alte BigBands, junge BigBands. Die Genres mischten FreeJazz, komponierten Jazz, Jazzrock, Klezmer, HipHop, Experimentelles, das alles in lauten und in leisen Tönen, gemischt wurden Party und exstatische Konzentration – Geschichtsgesättigtes, Außeramerikanisches, Außereuropäisches. Außerafrikanisches. Allein Mittelamerika, Asien und Australien fehlen.
Das führte aber eben nicht zur Verzettelung und zu bloßem Jahrmarkt – auf dem entsprechend einige Regale leer geblieben wären. Nimmt man nur die größeren Formationen wie Riesslers Big Circle, Wollnys Wunderkammer XXL und Roschers BigBand, so hat man ein weites Spektrum improvisatorischen und komponierten Umgangs. Wo bei Riessler Solist und Drehorgel im Zentrum stehen, sind es bei Wollny kompositorische Artefakte und bei Roscher Lebenswelt-Konzepte. Fügt man da Abraham Inc. New Yorker Schmelztiegel hinzu, findet man die pure Spiel- und Lebensfreude wieder. Dagegen verliert Joachim Kühns Afrika-Projekt und wirkt merklich gewollt und uneingespielt. Die restlichen Formationen kennen sich schon länger und funktionieren einfach. Und es wird doch wieder mehr Klarinette gespielt: Riessler, Don Byron, Fred Kracauer. Heimliche Verbindungen auch hier.
The Big Easy
Der Eröffnung-Gig mit Christian Scott umriss letztlich alles. Er nennt seine Musik „Stretch-Music“, gemeint ist damit eine Art Amalgamierung diverser Musikkonzepte zu einer brodelnden musikalischen Suppe. Im Prinzip eine Rückbesinnung auf die Ursprünge des Jazz selbst, in den ja viele verschiedene Elemente der gelebten Musik einfließen. Daher auch die Frage „Ist das noch Jazz?“ ebenso berechtigt wie unsinnig ist. Jazz ist die Haltung bei der Krokodile die Elbe hochschwimmen können und ebenso die Drehorgel, die Celesta oder der Sampler ihren Platz finden. Nur muss dieser Platz beackert, eben Kultur werden.
Es gab auch andere Tendenzen, die man wahrnehmen konnte: Ohrenfällig ist die Emanzipation der jüngeren Zeit vor allem an der Behandlung des Schlagzeugs. War vor 20 Jahren das Schlagzeug auf diesem Festival vielfach durch konventionelle Spieltechniken vertreten (wo man nicht zu Sicherheit ganz darauf verzichtete), ist es heute zum Musikinstrument eigener Art geworden. Ob bei Jack DeJohnette (wo man es sowieso nicht anders erwartet) oder dem jungen Louis Cato in Scofields „Überjam Band Deux“, ob bei den Schlagzeugern der großen Bands – sie sind keine Metronome (nicht missverstehen, große Schlagzeuger gab es immer schon). Es könnte einem fast angst und bangemachen, wie umfassend das Schlagrepertoire geworden ist.
Die Musiker heute sind einfach technisch zu gut. Die Angst, dabei seine Identität als Musiker zu verlieren, gilt nicht. Wer einmal mitbekommt, in welch unterschiedlichen Formationen heute allein die ganzen Jazz-Studenten unterwegs sind, weiß, dass - glauben Sie mir, ich mag diese Wortspiel nicht - Vergangenheit Geschichte ist. Das zu können und in sich aufzuheben und dann noch etwas drauf zu satteln, das der Schwung, der von hinten und von unten nachkommt.
Niemand ist mehr irgendwem oder einem Kanon gegenüber verpflichtet. Wollny neuer Sound ist ebenso einzigartig wie Roschers präzis kalkulierten Arrangements, Scofields Neuinterpretation des Jazzrock oder Scotts fast etwas kühle „Stretchmusic“. Noch am ehesten war beim Quartett um Jack DeJohnette „alte Heimeligkeit“ zu spüren.
Ausführliche Berichte zu den Einzelkonzerten des Jazzfestes Berlin finden Sie in der JazzZeitung.