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Ben Connor (Amazonier) & Rupert Enticknap (Europäer). Foto: © Armin Bardel
Ben Connor (Amazonier) & Rupert Enticknap (Europäer). Foto: © Armin Bardel
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Einspruch, Euer Ohren, gegen die Weltordnung – Kammeroper Wien: Mit Mauricio Kagels „Mare nostrum“

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Dass die Kolonialgeschichte der europäischen Mächte vom späten fünfzehnten bis zum späten 20. Jahrhundert eher kritisch gesehen und nicht mehr affirmativ dargestellt wird, scheint heutzutage fast eine Selbstverständlichkeit. Dieser offiziöse Konsens war 1975 keineswegs gegeben – der Generalissimus und Caudillo Francisco Franco war zum Beispiel in Spanien noch an der Macht. Vor vierzig Jahren schrieb Mauricio Kagel (1931–2008), als Komponist, Film- und Hörspielautor, Dirigent und kritischer Geist in den Gefilden der Neuen Musik aus Buenos Aires nach Köln gekommen, im Anschluss an „Exotica“ (für außereuropäische Instrumente, 1972) und „Zwei-Mann-Orchester“ (1973), das Kammerspiel „Mare nostrum“.

In jungen Jahren hatte sich Kagel in Argentinien schon an den alljährlichen offiziellen Kolumbus-Feiern und überhaupt der Verherrlichung der Kolonialgeschichte gerieben. Nun wollte und konnte er einen aus paradoxer Anschauung resultierenden, surrealen, heiter sprachfehlerbehaftet und im jandlschen Sinn sprachkritisch-ironischen Kontrapunkt setzen. Der kam nun, fast vier Jahrzehnte nach der Uraufführung im Rahmen der Berliner Festwochen 1975, in der Wiener Kammeroper als Österreichische Erstaufführung zu neuer Geltung.

Zuvorderst konfrontiert Mauricio Kagel seine Zuschauer mit einem Theater der Paradoxien. Die „Entdeckung, Befriedung und Konversion des Mittelmeerraums durch einen Stamm aus Amazonien“, so der Untertitel von „Mare nostrum“, nimmt einen kolossalen Stoff ins Visier. Der hätte das Format der Meyerbeerschen „Hugenotten“, der „Trojaner“ von Berlioz oder des Wagnerschen „Rings“ annehmen und ausfüllen können. Doch mit der ihm eigenen List der Vernunft beschritt Kagel nicht die ihm ohnedies obsolet vorkommenden Opernwege des 19. Jahrhunderts, sondern einen strikt gegenläufigen Pfad. Er kreierte „instrumentales Musiktheater“ in Kammerdimension. Getragen wird es von zwei (singenden und deklamierenden) Akteuren und einem (sichtbaren) Instrumentalisten-Sextett.

Vier MusikerInnen wurden auf der kleinen Bühne jeweils in einem Geviert untergebracht und erhielten auf diese Weise kabinengroße, aber unangefochtene musikalische Lebensräume. Im Übrigen wurde die Spielfläche mit reichlich viel Zimmerpflanzen erfüllt. Im Hintergrund zwei aus Urlaubsreiseprospekten kopierte Palmen und ein wunderschöner Wolkenhimmel, der gelegentlich per Video zur Meeresoberfläche animiert wird. Über die dringt der Repräsentant der südlichen Hemisphäre in den Mittelmeer-Kulturraum vor (seine Kombattanten bleiben unsichtbar, werden aber immer wieder sehr intensiv hörbar).

Ben Connor, der wie ein „Wilder“ aufbereitete „Amazonier“, entschuldigt sich eingangs für seine Sprach- oder Sprechfehler. Mit denen spielt dann die intellektuelle Komponente des Abends: Mit der „unermesserlichen Freude“, mit der er die mangelnde Hygiene der Mittelmeeranrainer und deren Entsorgungsgewohnheiten kritisiert. Der Eroberer macht sich ans Werk der „Konversion“ (das heißt der Zwangsmissionierung) und zeigt sich generell gewillt, die amazonischen Lehren „merkellos weiterzugeben“ (ein wenig, so scheint es, wurde der Part redigiert und aktualisiert). Der Bariton Ben Connor verwechselt Liturgie mit Lethargie, Libido mit Libertè und das sieht ein Schiff „in Küstersnähe“. Auch attestiert er den griechisch-römischen Tempelruinen rund ums Mittelmeer, dass sie „immer anders kaputtgebaut“ wurden. Im Kontrast zu ihm, der eine sehr eindeutige Partie zu spielen hat, schlüpft Rupert Enticknap in die unterschiedlichsten Rollen und Kostüme der sich unterwerfenden Europäer.

Kagel, Zuwanderer aus der südlichen Hemisphäre, blieb ein Künstler, der den fremden Blick“ kultivierte: „Vor uns die Sintflut“, lässt er seinen Amazoner-Häuptling sagen, „hinter uns Strandgut“. Auch der Einsatz der Musik in der anti-dramatischen Dramaturgie, unterstreicht das Befremdliche: manch ein Partikel der historischen Tonkünste findet sich in ihr wie Strandgut. Streckenweise beschränkt sich das Instrumental-Sextett auf Einwürfe, dann aber schwingt es sich zusammen mit dem Counter zu kleineren oder größeren Aufwölbungen von „musikalischem Theater“ auf. Durchaus passend zum Charakter der Exkursion kommen neben den gebräuchlichen Orchester-Instrumenten des nördlichen Mittelmeer-Raums auch vorderasiatische Klangwerkzeuge (wie das Widderhorn Shofar) sowie andere exotische Tonerzeugungsgeräte zum Einsatz.

Mit „Mare nostrum“ resumierte Kagel ironisch die linksintellektuellen Positionen der mittleren 70er Jahre und entwickelte durchaus prognostische Qualitäten. Einige Jahre vor der Gründung der Grünen Partei mokieren sich seine „Indianer“ auf „Paxifizierungs“-Tour über die Müllberge der nordwestlichen Zivilisation und über den verschwenderischen Umgang mit dem Wasser, mit dem sogar Fäkalien weggespült werden. Moniert wird die kindische Begeisterung, mit der die Männer, Frauen und Kinder an den Küsten Italiens das Neue begrüßen, einfach weil es neu ist – und wenn es sich auch nur um wertlosen Tand handelt. Insbesondere nehmen die Kunst-Indianer noch einmal religiöse Bräuche aufs Korn, vornan die Zwangsbekehrung zu einer neuen Religion. Zur travestierten „Alla turca“ aus Mozarts A-Dur-Klaviersonate treten der Osmin und die Blonde der „Entführung aus dem Serail“ in einen parodistischen Dialog. Auch ein Seitenhieb auf die Gebetsübungen vor der Klagemauer gehört zum kagelauernden medimarinen Rundschlag.

Das klein dimensionierte, halb-dadaistische Musiktheater wurde von Christoph Zauner am Fleischmarkt ‚werktreu‘ vorgeführt. Der Einspruch gegen den kulturellen, religiösen und politischen Eurozentrismus ist in der Wiener Version so unterhaltsam, dass man sich wünschen mag, die Inversions-Invasoren hätten noch mehr erobert und mit ihrem wohlverstandenen Unverständnis bedacht. Kagel unterhält die Ohren mit heiter-abgründigen Häppchen und raffiniert einfacher kalorienarmer Musik-Kost.

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