In Deutschland hat es Ambroise Thomas’ Grand opéra „Hamlet“ nach Shakespeare schwer. Das könnte sich in der Renaissance des Genres derzeit bald ändern. Das 1863 begonnene und 1868 als letzte Produktion in der Pariser Opéra Le Peletier herausgekommene Werk ist neben Charles Gounods „Roméo et Juliette“ die bedeutendste französische Shakespeare-Oper des mittleren 19. Jahrhunderts. Die Opéra Royal de Wallonie-Liège zeigte eine Ko-Produktion mit der Opéra Comique Paris, dem Peking Musikfestival und dem Kroatischen Nationaltheater Zagreb. In Liège triumphierte eine kongeniale, ideale Besetzung mit Jodie Devos, Lionel Lhote, Nicolas Testé und Béatrice Uria-Monzon in den Hauptpartien. Guillaume Tourniaire dirigierte mit stilkundiger Eleganz, Cyril Teste inszenierte mit strukturierender Sinnfälligkeit.
Der zaudernde Prinz von Dänemark ist auch Spielleiter. Das weiß die umfangreiche Shakespeare-Sekundärliteratur und Cyril Teste weiß das zu nutzen. Die Video-Leinwand ist das wichtigste Material in Ramy Fischlers Bühnenbild. Ständig wuselt nach dem Video-Konzept von Mehdi Toutain-Lopez und Nicolas Doremus ein Kamera-Duo über die Bühne. Es ist wie bei einem Promi-Empfang. Aber die Kostüme von Isabelle Deffin sind nobler, gediegener und sehr elegant. Das Faule im Staate Dänemark zeigt sich immer garniert mit dem diskreten Charme der Bourgeoisie. Ein kleines Musiktheaterwunder ereignet sich, weil dieses Konfektionskonfekt mit der erlesenen Oberflächenpolitur von Ambroise Thomas’ Oper, in der Hamlet am Ende als vom Schicksal gebrochener Mann die Herrschaft übernehmen muss, perfekt konveniert. Hier lenkt Hamlet den Blick eines untrüglichen Theatermanns und Filmemachers auf den Krimi in seiner Familie. Das wird in den intimen und gefilmten Szenen bei Cyril Teste ein Drama der kleinen Gesten. Seiner Mordtaten ist hier niemand froh, trägt aber sein schlechtes Gewissen auch nicht mit melodramatischer Expression zur Schau. Das Leid bleibt hinter der Gesellschaftsmaske. Statt großer Operngesten dominieren trotz der Last von Schicksal und Liebesentzug Gebärden von Liebe und Mitgefühl. Immer wieder wird der so wunderbar rote Zuschauerraum des Opernhauses zum Bühnenraum. Des Vaters wohlklingender Geist (Shadi Torbey) mahnt aus dem Parkett. Dort agieren auch der mit satter Rundung aufwartende Chor (Direktor: Denis Siegond) und Hamlet.
Erst könnte man meinen, dieser Bestager im früheren Wortsinn mit den Gebrauchsspuren des Lebens sei die falsche Besetzung für den von der Universität Wittenberg nach Helsingør heimkommenden Hamlet. Das erweist sich schnell als Irrtum. Lionel Lhote trägt keine Gesellschaftsmaske, durchmisst die gigantische Partie mit den von Thomas für den Ausnahmebariton Jean-Baptiste Fauré kalkulierten Höhepunkten ideal von der kraftvollen Mittellage bis in die tenoralen Extremhöhen. Und im Spiel holt er aus den anderen Figuren heraus, was diesen die Gesichter zerfurcht.
Fast noch besser ist Jodie Devos als Ophélie mit der sprichwörtlichen Wahnsinnsarie. Als einzige im Cast war sie in Liége letzte Spielzeit bei Thomas’ „Mignon“ dabei und ist im lyrischen Koloraturfach dort längst die Primadonna. Seit ihrer Philine wurde die Stimme etwas kräftiger. Devos erhält in Liége wohl immer die genau richtige Partie zur genau richtigen Zeit. Wie in „Mignon“ zeigt sie in „Hamlet“ neben allen Tugenden das dramatische Geschick, die erste, sonst etwas zähe Arie der Ophélie als wichtige und gewichtige Szene zu setzen – weil Devos mit Stimmschönheit perfekt charakterisieren kann. Und die letzten Minuten der Wahnsinnsszene geraten durch Devos zu einem melancholischen Zauberstück.
Auch dem Königspaar – dem Brudermörder und der Ehebrecherin - steht die lyrische Melancholie als Vorgeschmack der wohl bald folgenden Höllenstrafen ausgesprochen gut. Während im deutschen Opernraum reife Mezzosoprane von der Göttin Fricka nur allzu schnell zu Charakterchargen wie der leberkranken Klytämnestra mutieren, bleiben ihre französischen Kolleginnen auch dank eines dort bestehenden Repertoires mit den entsprechenden Partien lange in den besten Jahren. Das gut verborgene schlechte Gewissen macht die Königin Gertrude von Béatrice Uria-Monzon noch attraktiver, zumal sie mit jedem Ton eine sehr frauliche und zugewandte Monarchin artikuliert. Auch Nicholas Testé ist kein fieser Mörder, sondern ein äußerst nobler und durchaus einnehmender Diplomat. Nimmt man den Ausdruck der Stimmen und ihre durchweg edle Attitüde ernst, handelt es sich nur um edle Seelen, gerät die Szene auf dem gleichen Ausdrucksniveau wie die Musik zu einem lyrischen Drama par excellence.
Das gilt bis in die Details und Nebenpartien: den bei Thomas nicht ganz so kurz abgebundenen Laërte von Pierre Derhet, den auch als Totengräber formidablen Herren Laurent Kubla (Horatio) und Maxime Melnik (Melnik), den unauffälligen Polonius von Patrick Delcour, die engagiert spielenden Chorsolisten und den exzellenten Solo-Saxophonisten in der hier vom Chor übernommenen Komödianten-Szene. Nicht zuletzt das mit der unerlässlichen Raffinesse spielende Orchester der Opéra Royal de Wallonie-Liège lieferte einen beeindruckenden Opernabend mit Schönheit und Intensität.
- Premiere: 26.02.2023 – Besuchte Vorstellung: 28.02. - wieder am 02.03., 04.03., 07.03./20.00 Uhr