Ohne genauer angeben zu können, was Neue Musik ist – denn wer wollte das definieren? –, wissen manche Leute dafür umso genauer, was Neue Musik alles nicht ist. Offenbar bereitet sie vielen Menschen ein Gefühl des Entbehrens, denn sie vermissen hier all das, was sie sonst an Musik so lieben und schätzen: Melodie, Harmonik, Rhythmus, Sinnlichkeit, Erotik, Humor, mitreißende Kraft, bannende Magie, aufwühlende Emotionalität, Schönheit.
Abgesehen davon, dass sich all dies auch in Neuer Musik finden lässt – wenngleich oft in anderer Weise –, zeugt das Enttäuscht-Sein ob solcher defizitärer Bilanz vor allem von normativem Denken: Mein musikalischer Kosmos ist Mittelpunkt des Universums und die hier Ton angebenden Kriterien müssen auch für alle anderen Erscheinungsformen von Musik Gültigkeit besitzen. Gegenüber einem so ptolemäisch geschlossenen Wertesystem wirkt Neue Musik wie eine kopernikanische Wende, die dem Hörer zu verstehen gibt: Außerhalb Deines subjektiven Erfahrungs- und Ermessenshorizonts geht es weiter und immer weiter zu ganz anders tönenden Planeten, Sonnensystemen, Galaxien. Doch statt sich neugierig auf diese Abenteuerreise einzulassen und sich über Weitungen des beschränkten Radius zu freuen, reagieren viele Hörer narzisstisch gekränkt und diagnostizieren an Neuer Musik nur einen Mangel an Beats, Körperlichkeit, Wohlklang, aufputschender Wirkung …
Neue Musik ist jedoch nicht bloß Bruch mit der Tradition, Negation des Bestehenden, Verweigerung des Gewohnten. Sie folgt auch längst nicht mehr – wenn das überhaupt je der Fall war – dem von Adorno 1949 angedachten und allenfalls für das serielle Komponieren Mitte der 1950er-Jahre relevanten „Kanon des Verbotenen“. Abgesehen davon, dass es auch langweilige und unoriginelle Stücke gibt, wird man Neuer Musik nicht gerecht, wenn man an ihr nur vermisst, was man gerne hätte, dass sie wie die meiste andere Musik haben solle. Vielmehr hat sie auch ihre Eigengesetzlichkeit und sollte man erst einmal wahrnehmen, dass sie das Vermisste entweder doch hat – wenn auch verwandelt – oder eben über ganz andere Eigenschaften verfügt, die erst einmal entdeckt und erfahren werden wollen. Harmonik, Rhythmik und Metrik fehlen nicht, sondern sind oft schlicht anders beschaffen als in Pop-Musik oder klassisch-romantischem Repertoire. Auch Körperlichkeit und Erotik müssen sich nicht immer nur durch schnell wummernde Beats oder entsprechende Vocals mitteilen. Manchmal entfalten sie sich auch in kraftvollem Reiben, Kratzen, Schlagen oder in zartem Hauchen und Streicheln mit Bögen, Atem, Händen. Als Abweichung von mehrheitsfähigen Hör- und Wertungsschemata ist Neue Musik – wie jede Minderheit – für die Mehrheit eine Provokation und damit eminent politisch.
Das Festival Eclat im Stuttgarter Theaterhaus bietet vom 4. bis 7. Februar Uraufführungen vor allem junger und hierzulande teils wenig bekannter Komponisten internationaler Herkunft: Maximilian Marcoll, François Sarhan, Brahim Kerkour, Giorgio Netti, Lars Petter Hagen, Michael Pelzel, Germán Moreno-Brull, Marko Nikodijevic, Beat Furrer, Manos Tsangaris, Dietrich Eichmann, Anna Korsun, Boris Filanovsky, Benjamin Scheuer, Dror Feiler, Klaus Lang, Sergej Newski und Iris ter Schiphorst. Die Biennale Klangzeit in Münster präsentiert unter dem Motto „Neue Heimat“ vom 8. bis 21. Februar Novitäten von Stephan Froleyks, Giorgio Battistelli, Ulrich Schultheiss, Ansgar Beste, Rakhat-Bi Abdyssagin, Thorsten Schmidt-Kapfenburg, Jeffrey Ching, Peter Gahn, José María Sánchez-Verdú und Jörg-Peter Mittmann. Eine odysseeische Entdeckungsreise zu neuen Welten, Ideen und Utopien schildert schließlich Johannes Kalitzkes neue Oper „Pym“ nach dem Roman von Edgar Allan Poe, deren Premiere am 18. Februar im Theater Heidelberg zu erleben ist.
Weitere Uraufführungen
01.02.: Sven-Ingo Koch, Cella Memoriae für Streicher, E-Gitarre und Schlagzeug, Laeiszhalle Hamburg
14.02.: The cloud-capp’d tow’rs – Symphonisches Gedicht für Chor und Orchester, Stadthalle Wuppertal
18.02.: Wilfried Hiller, Liebeslied des Orpheus für seine Eurydike, Stadtmuseum München
20.02.: Charlotte Seither, neues Werk für Orgel und Schlagzeug, Kunst-Station Sankt Peter Köln
22.02.: Helmut Schmidinger, hoc scripserunt für Violoncello und Orchester, Reutlingen
26.02.: Rebecca Saunders, Georges Aperghis, neue Werke, musica viva Herkulessaal München
27.02.: Enno Poppe, Stoff, Musikfabrik im WDR Köln