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Metamorphosen: Die Stuttgarter Vocalsolisten als Pilzwesen. Foto: Martin Sigmund
Metamorphosen: Die Stuttgarter Vocalsolisten als Pilzwesen. Foto: Martin Sigmund
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Empathie für Mikrokosmen und Mycelien

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Das erste hybrid durchgeführte Eclat-Festival stößt auf internationalen Zuspruch · Von Harry Schmidt & Andreas Kolb
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Nachdem die letztjährige Ausgabe lediglich digital übertragen werden konnte, wurde das Stuttgarter Neue-Musik-Festival Eclat in diesem Jahr erstmals hybrid ausgetragen. An sechs Fes­tivaltagen waren 21 Veranstaltungen mit mehr als 30 Uraufführungen zu erleben. Neben dem Themenschwerpunkt Belarus stand auch der Begriff des Prekären im Mittelpunkt.

Prekär nennt man Verhältnisse, die durch Unsicherheit geprägt sind – ein Status auf Widerruf, dessen Hauptmerkmal seine Ungewissheit ist. Die Tendenz zum Instabilen, Provisorischen, Fragilen und Labilen charakterisiert nicht nur die Lebensbedingungen vieler Musikerinnen und Musiker, sondern auch deren Berufspraxis. Diskontinuierlichkeit, Disruption und Bruch sind nicht erst seit der Corona-Krise prominente Strategien in den Partituren der Neuen Musik. Grund genug für die diesjährige Ausgabe des Neue-Musik-Festivals Eclat, dem Begriff des Prekären einen Programmschwerpunkt zu widmen.

Unter dem Titel „Performing Precarity I“ gingen die Performerinnen Ellen Ugelvik und Jennifer Torrence den Implikationen des Paradigmas nach. Zwei insektenartige Wesen kauern auf der Bühne, einzig an ihren Fingerspitzen befestigten Flügel bewegen sich in konzertierter Aktion, mal synchron, mal gegenläufig – Simon Løfflers „Animalia II“ mobilisierte Empathie für diesen Mikrokosmos. Lisa Streich interpretiert das Konzept des präparierten Klaviers, indem sie in „Cadenza“ Elektromotoren Papierstreifen über die Saiten wedeln lässt – die Wirkung auf das Klangbild ist nicht exakt kontrollierbar.

Poetisch: Laurence Cranes „2-Meter-Harmony: Uncertain Chorales“ zeigt drei Performer, die mit Mundharmonika, Stimmpfeifen und Unisono-Gesang der Kälte des norwegischen Winters trotzen. Überraschend narrativ wirkte die Uraufführung von „Utflukt“, einer Zusammenarbeit von ­Ugelvik und Torrence mit der Komponistin Carola Bauckholt und der Animationsfilmerin Elizabeth Hobbs: Gelungen greifen Musik, Darstellung und Projektionen in dieser Multimedia-Inszenierung ineinander.

Den humorvollsten Beitrag des Fes­tivals lieferte der norwegische Komponist Trond Reinholdtsen mit „Performing Precarity II“: Sein „Keine Ideen. Keine Neue Perspektive“ brachte von absurder Komik skelettiertes Musiktheater auf die Bühne im Stuttgarter Theaterhaus und mündete kurz vor Mitternacht in eine turbulente Geis­terstunde. Dazwischen war mit dem Preisträgerkonzert zum Kompositionspreis der Stadt Stuttgart ein traditioneller Fix- und Höhepunkt des Fes­tivals platziert. Zum 66. Mal verliehen, wurden gleich drei Komponisten geehrt: Benjamin Scheuer erhielt für „Acht Arten zu atmen“ den mit 8.000 Euro dotierten 1. Preis, Mikołaj Laskowski („5 Things That Really Matter“) und Francesco Ciurlo („Abstraction to the Point of“) teilten sich mit je 4.000 Euro den 2. Preis. Scheuers Konzeption ähnelt zwar einem Versuchsaufbau – mit Spielzeuginstrumenten erzeugte Alltagsklänge werden von Musikern imitiert und als Samples Grundlage der Partitur –, doch im Mittelpunkt steht nicht die Technik, sondern die Interaktion der Solisten (virtuos: Klarinettist Kilian Herold und Akkordeonist Teodoro Anzellotti).

  • Harry Schmidt

Reinigende Riten

Robin Hoffmanns Komposition für Kammerensemble „Anonyme Bestattungen“ bot eine fünf Stunden dauernde Erkundung der Langsamkeit.  Die Instrumentalisten des Ensemble Ascolta – Anja Clift Flöte, Markus Schwind Trompete, Andrew Digby Posaune, Boris Müller Vibraphon, Julian Belli Marimbaphon, Florian Hölscher Klavier, Johannes Öllinger Gitarre und Erik Borgir Cello – saßen im Rund auf der Bühne, umgeben von Publikum, das jederzeit den Saal betreten oder verlassen konnte. Robin Hoffman lud dazu ein, die Verwandlung des Gleichförmigen mitzuerleben. Sich gegeneinander verschiebende Skalen sind Grundlage von sage und schreibe 225 kurzen Stücken, in denen immer wieder variiert und abgewandelt ein ähnlicher Tonraum durchschritten wird. Die Zeit kommt zum Stillstand, der Zuhörer entspannt, und taucht ein in ein Musikkontinuum, in dem es keine Melodie, keinen Rhythmus, kleinen Klang gibt. Hoffmanns Musik tritt zurück, schafft ein meditatives Wohlfühl-Kontinuum. Wäre da nur nicht die Quälerei für die Musiker des Ensembles Ascolta, die dieses Kontinuum fünf lange Stunden aufrechterhalten. Das verdient Respekt.

Respekt verdienen auch der Anlass und die Intention von Hoffmanns „Anonyme Bestattungen“: Am Beginn stand 2019 ein Projekt mit der Musikschule Bietigheim-Bissingen, einer Stadt im Norden Stuttgarts. Angedacht war, einen musikalischen Beitrag von Schülerinnen und Schülern der Musikschule bei Bestattungen für diejenigen anzubieten, die entweder nicht genannt werden möchten oder sich eine andere Bestattung finanziell nicht leisten können. Wie das Fünfstunden-Stück in der Bestattungspraxis durch Musikschüler gehandhabt werden soll, stand auf dem Eclat Fes­tival nicht zur Debatte. Entstanden ist eine Musik, die nichts will, nirgendwohin führt und die den Zuhörer ganz bei sich lässt. Ein akustischer Wellnessbereich im hektischen Festivaltrubel.

Bedrückend

Drei Stockwerk weiter oben im Stuttgarter Theaterhaus das Gegenteil: Hier konnte man teilhaben an den „Practises of Subordination“, Praktiken der Unterwerfung, einer Video-Installation des Künstlers Sergey Shabohin, der seit zehn Jahren triviale Objekte aus Weißrussland sammelt, die von der Einmischung und der Gewalt des Staates in das Leben seiner Bürger Zeugnis abgeben.

Komponist Christoph Ogiermann und die Kuratorin Lena Prens hielten zu den Gegenständen des Künstlers eine erschütternde Lecture Performance. Wer sich trotz der virtuosen Live-Abmischung Ogiermanns von zwei auf sechs Kanäle in eine Vorlesung versetzt fühlte, muss wissen, dass es in Stuttgart eine besondere Belarus-Veranstaltungstradition gibt.

Entstanden ist sie durch die Inhaftierung der ehemaligen Musik-der-Jahrhunderte-Mitarbeiterin Maria Kaleshnikova, die in der kurzen Zeit nach der angefochtenen Wahl Lukaschenkos zum weißrussischen Präsidenten zur Opposition stieß und nach einer spektakulären Aktion bei ihrer geplanten Abschiebung nach Polen im Gefängnis landete. Sie wird in Stutt­gart nicht vergessen: Ihr sind die Konzerte „Echoes – Voices from Belarus“ gewidmet, sowie einige weitere Konzerte der Ausgabe 2022 wie „Musik für Auferstandene und Tote“ mit der Lyrikerin Valzhynas Mort und der Komponistin Oxana Omelchuk.

Heiter bis ausgelassen

Der Pianist Ulrich Löffler besitzt eine Sammlung analoger E-Pianos, Synthesizer, Hammond und anderer elektrischer Orgeln. Was tun, wenn man aber musikalisch im digitalen Hier und Heute lebt? Löffler initiierte zusammen mit der Violinistin Hannah Weirich die Reihe „Zurück in der Zukunft“ und vergab mehrere Kompositionsaufträge für Geige, E-Geige und seine Keyboards, darunter ein Mini Moog, ein Fender Rhodes Piano, ein Beringer 2600 Synthesizer, die Yamaha YC-45D Orgel oder auch ein Hohner Clavinet.

Nach Stuttgart brachte das Duo fünf Stücke mit, zwei davon Uraufführungen. Für den Komponisten Eivind Buene sind die Schwingungen der Oszillatoren im Mini Moog und die der Violinsaiten inspirierendes Material: Da wo sich synthetischer Sound und die Klänge aus der „Holzkiste“ Geige ganz nah sind, da schuf er eine faszinierende Klangwelt voller mikrotonaler Reibungen, Glissandi und Imitationen. Buene macht aus Mini Moog und Geige ein Instrument. Ganz anders Oxana Omelchuk, die das Fender Rhodes und die E-Geige im Oszillator des Behringer 2600 ringmoduliert und ihnen dennoch ihre Eigenständigkeit belässt. In gewissem Sinne ist das Stück „Die Zähmung der Stille“ Widmung und Allusion auf das Trio 1977 ihres Kompositionsprofessor Johannes Fritsche.

Milica Djordjevic war ganz bei sich selbst mit dem Duo-Stück „Fail again“. Leidenschaftlich, kraftvoll, vielseitig, explosiv und voller Überraschungen – so komplex ihre elektronische Musik ist, sie bleibt direkt, sinnlich und zugänglich. Löffler und Weirich hatten sichtlich Vergnügen an dieser dynamischen, leidenschaftlichen Musik.

Apropos Vergnügen: Die Klangmaschinen aus den 1970er-Jahren sind in die Jahre gekommen, stammen sie doch alle aus einer Zeit, in der noch kein Personal Computer in Betrieb war. Doch wie im Titel angekündigt, mussten sich die deutlich jüngeren Zuhörer nicht auf eine Zeitreise in die Vergangenheit machen, sondern die Künstler holten mit ihrer Musik die Instrumente zurück in die Gegenwart. Ob der Moog auch noch in 200 Jahren gespielt werden wird, muss die Zukunft beweisen. Noch ist ein Mini Moog nicht vergleichbar mit einer Stradivari oder einer Guarneri.

Die Russin Dariya Maminova steuerte mit ihren „Microstories about tenderness“ von 2021 einen poetischen Beitrag zu diesen Zeitreisen bei. Gordon Kampe dagegen schuf mit „Tanzen!“ ein Tanztheater im analogen Klangerzeuger-Raum. Sein Feuerwerk an überraschenden Rhythmen, melodischen Wendungen und ausgelassenem Ausprobieren war ein Publikumserfolg.

Heiter und ausgelassen auch Andreas Franks Musiktheater „Hyphemind“, eine Science-Fiction-Oper über die Zukunft der Menschheit: als wild wucherndes Pilzwesen, als Mycelnetzwerk, das die Krise des Anthropozän überwinden will. Die Neuen Vocalsolisten bewährten sich im Boulevard und zündeten das Frank‘sche Feuerwerk aus Ensemblegesang, Theater, Lecture, Liveshow, Kabarett und Improvisation. Sopranistin Johanna Vargas bewältigte spielerisch neben ihren High Notes auch noch den Part einer Kamerafrau – der Medienkünstler Frank hatte alle Register eines maximalen Meta-Musiktheaters gezogen.

Mit einigen ausverkauften Konzerten und einer Gesamtauslastung von 70 Prozent vor Ort sowie Online-Ticketkäufern aus 25 Ländern zeigte sich MdJ-Intendantin Christine Fischer als künstlerische Leiterin des Festivals mit der Hybridresonanz hochzufrieden. Wer keine sechs Tage im Theaterhaus auf dem Stuttgarter Pragsattel verbringen konnte, erlebte das hybride Festival als Onlineteilnehmer am Bildschirm und konnte sich als sein eigener Kurator ein ganz persönliches Festival zusammenstricken. Natürlich auf die Gefahr hin, dass man bei dieser Art von Konzertritual nur das entdeckt, was man sowieso schon kennt.

  • Andreas Kolb

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