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Anna Karenina am Theater Bremen. Foto: Theater Bremen
Anna Karenina am Theater Bremen. Foto: Theater Bremen
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„Endlich mal was Schönes“ am Theater Bremen – Armin Petras’ Tolstoi-Adaption von „Anna Karenina“ mit Musik von Sebastian Vogel und Thomas Kürstner

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Uraufführung am Theater Bremen: „Anna Karenina“ von Sebastian Vogel und Thomas Kürstner. Aber wer sich hier eine Uraufführung neuer Musik erwartete, sah sich getäuscht. „Endlich mal was Schönes“ hörte man mehrfach nach der viel umjubelten Aufführung. Was war zu hören?

Und was ist eigentlich schön am Schicksal der verheirateten Anna, die für ihre Liebe alles aufgibt und sich am Ende vor den Zug wirft, weil sie erkennen muss, dass sie für ihren Liebhaber Wronski nicht die Glückserfüllung war? „Keine Oper, keine Operette, kein Musical, kein Oratorium, keine Schauspielmusik, aber alles ein bisschen“, hatte der Komponist Sebastian Vogel in einem Pressegespräch gesagt.

Und so war‘s denn auch: Eine Musik in einem ebenso eklektischen wie epigonalen Stil, in dem man alles hört: Klassisches, Romantisches, Expressionistisches, Neoklassizistisches, Jazziges, Folkloristisches, … vieles mehr. Eine gekonnt zusammengestellte Theatermusik, bei der man gar nicht erst versuchen sollte, nach der neuen „Oper“ zu suchen. Doch wäre nur die funktional oft gut sitzende Situationsmusik, kann man sie vergessen, denn über die Stilkopien und -schwankungen irritiert zusätzlich, dass man sich als Zuhörer nirgendwo atmosphärisch einnisten kann, mit wenigen Ausnahme kaum eine Szene, die wirklich gefangen nimmt, weil viel zu schnell und abrupt wieder stilistisch in etwas ganz Anderes gesprungen wird. Die Anforderungen an die SängerInnen sind immens.

Was aber macht dann die immer wieder packende Spannung dieses Abends aus? Es sind die Textbearbeitung (2008) des 1200-seitigen Romans von Leo Tolstoi (1873-78) und die Regie von Armin Petras, dem „Rockstar des neuen deutschen Theaters“, und die entsprechenden großartigen Schauspieler/Sängerleistungen des Abends. Und es ist das Bühnenbild von Susanne Schuboth, das sich in drei Ebenen präsentiert: ganz hinten eine Bank, davor eine Holzwand und noch davor eine Spielfläche. Mit diesen Elementen spielt alles ineinander: was hinten geschieht, wird durch die Wand teilweise verdeckt und erscheint in schwarz-weißen Videos wie in einem alten Stummfilm auch auf dieser, was vorne geschieht, ebenso, manchmal bietet die Filmfläche Neues und anderes, scheint das Gesehene zu interpretieren und zeigt damit noch eine vierte Sicht. Diese Schichten sind voller emotionaler Spannung. Die ansonsten epische Anlage, in dem die Protagonisten eher etwas erzählen als direkt erleben, bietet nicht eine lineare Geschichte, sondern zeigt Stationen von höchster Eindringlichkeit, die dann auch immer wieder in einen tief berührenden Realismus kippen wie die Filmsequenz des verzweifelten und immer weiter herunterkommenden Karenin (fabelhaft Patrick Ziehlke). Oder Anna in Wronskis Arm: beide schauen ängstlich und skeptisch in eine Zukunft, von der sie zu wissen scheinen, dass es sie gar nicht gibt. Oder die sehr ambivalente Schlussansprache Annas, mit der sie vor ihrem Selbstmord weniger ihre Verletzung artikuliert als Wronski „ärgern will“, was spätestens jetzt klar die Illusionierung dieser Liebe und Wronski als ledigliche Projektion für Annas Sehnsüchte zeigt: eine Paraderolle für die Singschauspielerin Nadine Lehner. Hubert Wild zeigt genau das als Wronski, im Stück auch als „Windbeutel“ und „Modepuppe“ bezeichnet, mitreißend und beklemmend.

In die Geschichte von Anna und Wronski hineingewoben sind die von Lewin und Kitty (hinreißend gesungen und gespielt von Christoph Heinrich und Nerita Pokvytyté) und die von Dascha und Stefan (still duldend Nathalie Mittelbach und wild bewegt Stefan Baum aus dem Schauspielensemble), der diese Welt „in Stücke reißen will“. Insgesamt ein eindrucksvoller Theaterabend, der die Abwesenheit von neuer Musik fast vergessen macht. „Musiktheatermaterial für Orchester, Sänger- und SchauspielerInnen“ nennen die beiden Theatermusiker eher bescheiden ja auch ihre Arbeit. Einen Löwenanteil am Erfolg dieses Abends haben die Bremer Philharmoniker unter der Leitung von Clemens Heil, der dies alles in eine überragende Intensität zusammen klammerte.

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