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Gelungene Uraufführung sichert dem Osnabrücker Auftragswerk ein überzeugendes Entree. Foto: Klaus Fröhlich
Gelungene Uraufführung sichert dem Osnabrücker Auftragswerk ein überzeugendes Entree. Foto: Klaus Fröhlich
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Endlose Spirale: eine Mechanistik des Grauens

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André Werners Oper „Lavinia“ am Theater Osnabrück uraufgeführt ·
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Die blutigen Unruhen in aller Welt, die Kämpfe zwischen verfeindeten Stämmen oder Religionsgemeinschaften, das Gieren nach Macht und ökonomischen Ressourcen bestimmen das weltpolitische Klima unserer Tage. Die Stichworte heißen Irak, Afghanistan, Sudan. Jeden Tag melden die Medien Dutzende von Toten. Die Attentate häufen sich. Grausamkeit scheint immer mehr die Welt zu beherrschen. Sensible Menschen leiden unter solchen Zuständen. Der Künstler versucht sich aus den Bedrängungen zu retten. Er setzt sein Schaffen zur psychischen Bewältigung seiner Beobachtungen und Erfahrungen ein.

Eine Möglichkeit bietet sich an: der Blick zurück auf die lange Ahnenreihe der Kollegen. Was die Dichter von einst überlieferten, scheint die dumpfe Ahnung zu bestätigen: Der Mensch ändert sich nicht. Er bleibt seinem Wesen im tiefsten Innern verhaftet. Shakespeare hat das wohl mit am besten erkannt. Seine Werke sind dramatisierte Menschenkunde auch ohne Sigmund Freud. Allerdings kannte Shakespeare auch die Bedürfnisse seines Publikums. Er gab dem Affen im Zuschauer Zucker, wenn er die Schlechtigkeit der Welt grell ausgemalt auf die Bühne stellte, zum Beispiel in seiner ersten Tragödie „Titus Andronicus“. Von den dort abgehandelten Greueln könnte die heutige Boulevardpresse jahrelang leben. Das traf den Geschmack von Shakespeares Zeitgenossen: Von fünfundzwanzig Personen sind am Ende vierzehn tot. Das erscheint uns heute für ein Theaterstück doch etwas übertrieben, auch wenn gerade wieder einmal ein Amokläufer eine ähnliche Statistik in der Wirklichkeit erstellt hat.

Dass sich aus dem Gewirr von Morden, Folterungen, Schändungen bis hin zu jener bekannten grauslichen Szene, in der der Feldherr Titus Andronicus den geladenen Gästen, seinen Feinden, deren geschlachtete Söhne in Pastetenform vorsetzt, auch ein gehobenes Modell menschlicher Existenzformen gewinnen läßt, haben einige Darstellungen plausibel gezeigt, am wohl einprägsamsten Peter Brooks Inszenierung von 1955, die dann in vielen europäischen Theaterstädten zu erleben war. Im Gemetzel wurden die archaischen Urkräfte erkennbar, die das menschliche Leben bestimmen.

Wenn heute ein Komponist sich den Titus-Andronicus-Stoff zur Vorlage einer Oper erwählt, steht ihm das kurz umrissene zeitgeschichtliche und aktuelle Panorama plastisch und emotional bewegend vor Augen. In seiner Oper „Lavinia A.“, für das ihm Gerd Uecker unter Verwendung von Shakespeares Tragödie und Heiner Müllers „Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespeare-Kommentar“ das Libretto schrieb, strebt André Werner kein individuelles Personendrama an, er personifiziert vielmehr die „Mechanistik des Grauens“ (Carin Marquardt im Programmheft). Aus einem langen Krieg zurückgekehrt, setzen die beteiligten Parteien das Gemetzel quasi im Familienbetrieb fort. Werner und Uecker haben Shakespeares Vorlage entsprechend konzentriert. Nur noch vier Personen bestreiten die Hauptaktionen: neben Titus dessen Gefangene, die Gotenkönigin Tamora, seine Tochter Lavinia und der „böse Geist“ des Aaron, der wie ein ins Grauenhafte gewendeter Puck durch diesen blutigen Albtraum jagt.

Was demonstriert werden soll, könnte man auch in einem Lehrbuch der Psychologie nachlesen: wie sich Aggressionen aufbauen, immer weiter steigern, bis sie nicht mehr umkehrbar sind. Die aggressiven Energien enden erst, wenn sie erschöpft in sich zusammenfallen. Auf aktuelle Zustände in der Welt projiziert, ist das allerdings eine wenig befriedigende Hoffnung.

André Werners Musikalisierung der szenischen Gestalten hält sich von jedem nur-opernhaften Gestus fern. Was das kammermusikalisch besetzte Orchester mit jeweils drei Trompeten und Hörnern, zwei Posaunen, zwei Klavieren, Perkussion und kleiner Streicherbesetzung sowie Live-Elektronik spielt, gleicht eher einem komponierten Kommentar zu den Ereignissen auf der Bühne. Gleichwohl bietet die Musik auch Atmosphärisch-Bildhaftes, wenn etwa dumpfe Trommelschläge beim Auftritt des Chores Unheilvolles signalisieren, sie funktioniert auch konstruktiv mit rotierenden Skalen, analog zur sich steigernden Bewegung der Gewalt auf der Szene. Holzbläser finden sich in der Partitur nicht, sie würden das Klangbild wohl zu stark „romantisieren“. Werners „Lavinia“-Musik fesselt und überzeugt durch ein gehärtetes Klangrelief, mit dem das Geschehen auf der Bühne eine fast schmerzhafte Schärfe gewinnt. Die Osnabrücker Uraufführung – „Lavinia“ entstand im Auftrag des Theaters Osnabrück – sicherte dem Werk ein überzeugendes Entree. Die Spielfläche in der Mitte
wurde seitlich von zwei hohen Podesten für den Chor begrenzt. So entstand ein leicht oratorischer Eindruck, so wie bei Orffs Antikenstücken. Hier mischt sich der Chor aber immer wieder auch aktiv ins Spiel ein, ist nicht nur Kommentator, auch Akteur. Die Inszenierung Kay Kuntzes im Bühnenraum Frank Michael Zeidlers sichert dem Werk so eine quasi antikische Darstellungsform, eine zwingende Objektivierung des Geschehens.

Es ist immer wieder erstaunlich zu erfahren, mit wie viel Ehrgeiz und zugleich Kompetenz in der sogenannten Provinz die Sänger und Orchester agieren. Das Osnabrücker Symphonieorchester unter Hermann Bäumer präsentierte sich so aufmerksam, engagiert und vertraut mit allen Schwierigkeiten, als wollte es dem Ensemble Modern Konkurrenz machen. Genadijus Bergorulko war vokal und im Spiel ein eindrucksvoller Andronicus, Karen Fergurson als seine geschundene Tochter Lavinia, intensiv in Gesang und Spiel, beeindruckte vor allem als sprachlose Leidens-Ikone, nachdem sie von den Söhnen der Kaiserin Tamora geschändet und verstümmelt worden war. Dieser Tamora gab Eva Schneidereit das treffende ehrgeizige Profil: am Schönsten ist die Rache an der unterlegenen Konkurrentin. Yoonki Baek spielte den zwielichtigen Aaron vor allem darstellerisch höchst beweglich aus. Den sehr präsent wirkenden Chor hatte Peter Sommerer einstudiert. Bemerkenswert auch das Publikum: Es will scheinen, daß ein engagiertes Musiktheater allmählich auch beim „normalen“ Opernbesucher immer mehr Interesse findet.

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