Die UN/RUHE beginnt draußen mit bemerkenswerter Stille. Ein paar Dutzend Menschen stehen regungslos in geometrischer Strenge auf dem Vorplatz der Weimarhalle, verlassen einer nach dem anderen ihren zugewiesenen Standort und gehen ihrer Wege. Nur die Schuhe bleiben zurück und konstituieren am jetzt menschenleeren Ort ein abstraktes Feld der Erinnerung, das mit zwingender Bildhaftigkeit so einiges ins Bewusstsein rückt, was gerade an existentiellem Drama tagtäglich unterwegs nach Europa ist. Menschen – allein mit ihrem Körper und ein paar Visionen: Schmerzen und Sehnsüchte, Verzweiflung und Utopien, Grenzüberschreitungen ... das werden auch die Themen der Musik sein, nicht irgendeiner Musik. Dann wird erst mal das Licht ausgemacht ...
Aus den Tiefen des späten 19. Jahrhunderts steigen drinnen in der Dunkelheit des Saales, eher unsicher fragend als „langsam und schmachtend“, die Celli empor und treffen sich im zweiten Takt mit den Holzbläsern zur wohl berühmtesten Dissonanz der Musikgeschichte. Ohne Übertreibung: Lange hat man das „Tristan“-Vorspiel nicht mehr so intensiv und feinnervig gehört wie an diesem Abend mit Sylvain Cambreling und der Jungen Deutschen Philharmonie. Die war in ihrer „FREISPIEL“-Reihe der eigentliche Initiator eines denkwürdigen Triptychons, das zuvor bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik Premiere hatte, im Berliner Radialsystem weitere Aufführungen erlebte, in seiner interdisziplinären Energie aber wunderbar dazu geeignet war, das diesjährige Kunstfest Weimar mit seiner programmatischen Vernetzung der Künste zu eröffnen. Die harmonische Ambivalenz und Ungreifbarkeit des „Tristan-Akkords“ hatte quasi leitmotivische Symbolkraft für die Wechselwirkungen von Verzweiflung und Verheißung, Ruhe und Unruhe als Triebfeder eines Abends, dessen Energiezentrum eine beeindruckende Choreografie von Rebecca Saunders Violinkonzert „Still“ (2011) darstellte.
So wie Wagners „Sehnsuchtsmotiv“ die Keimzelle des „Tristan“ markiert, ist bei Saunders ein metallisch flirrender Flageolett-Triller plus Miniglissando (am Steg) die ungreifbare DNA des gesamten Stückes. Er ist der Urknall einer zerklüfteten Klanglandschaft aus fragmentarischen Impulsen, rauen Kurz-Crescendi und schroffen Eruptionen, die im ersten Teil alles andere als ruhig daherkommt, sondern mit unwirtlicher, kantiger Härte. Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, dass die Komponistin das Stück zunächst „Rage“ nennen wollte, sich dann aber doch für den Titel einer Kurzgeschichte von Samuel Beckett entschied – Beckett und Saunders, das ist eine vielfach erprobte ästhetische Wahlverwandtschaft. Saunders konvulsivische Klanginteraktionen mit ihren gewohnt fein austarierten Instrumentalgesten im Grenzbezirk von Ton und Geräusch verkörpern an sich schon eine ungemein physische Musik, die von Choreograf Antonio Ruz geradezu kongenial ins Körperliche verlängert wurde.
Er und seine Tänzer von Sasha Waltz & Guests taten dies auch deshalb auf besonders eindringliche Weise, weil die Distanz zwischen Tänzern und Instrumentalisten konsequent negiert wurde. Zum einen bewegten sich die Tänzer teils mitten zwischen den Instrumentalisten, oft nur mit Armen und Oberkörpern agierend als wäre hier eine Gebärdensprache aus den Fugen geraten. Zum anderen waren auch die Musiker Teil der Performance, überraschten mit sparsam dosierten Kollektiv-Bewegungen am Rande des Komischen und auch Solistin Carolin Widmann fand sich nicht selten mit vollem Körpereinsatz inmitten der Tänzer wieder – umgarnt, gestützt, bedrängt, stehend, fast fallend, auf dem Boden liegend. Die räumliche Enge auf der mit großer Orchesterbesetzung gut gefüllten Bühne der Weimarhalle tat ihr übriges, um die Intensität der Begegnungen von Körper und Klang unmittelbar werden zu lassen.
Alles in Aufruhr in dieser expressiv-seismografischen Körpersprache, die ganz nah an der Physis des Klangs ein kreatürliches Zittern und Beben, Verzweifeln, Befreien und Aufbrechen inszenierte, wo Tänzer sich vereinzelten, zusammenfanden, wieder abstießen oder zu diffusen Haufen verschmolzen. Dass hier aber nie zu dick aufgetragen wurde, verdankte sich einem tänzerischen Geschehen, das wie ein Vexierbild zwischen Abstraktion und erzählerischem Potential hin- und her kippte und dabei Bilder des Schmerzes und der Verzweiflung ebenso heraufbeschwor wie Momente purer Kraft und Energie. Rebecca Saunders hatte ihr Stück, 2011 übrigens von Cambreling und Widmann in Bonn aus der Taufe gehoben, dafür um ein „Interludium“ erweitert, das eigens im Hinblick auf Ruz’ Choreografie geschrieben wurde und eine Art Scharnier bildete zwischen dem Furor des ersten und der eher kontemplativen Ruhe des zweiten Teils des Stücks. Die bezwingende Intensität des Ganzen lag aber nicht allein in der expressiven Präsenz der Tänzer begründet. Carolin Widmann lud Saunders zersplittertes Klang-Kraftfeld mit spürbarer Elektrizität auf und die Junge Deutsche Philharmonie, tja, die spielte „Still“ so differenziert, klangintensiv und voller Herzblut, dass man glauben konnte, da wären Neue Musik-Spezialisten am Werk. Hätte das Ensemble Modern Orchestra es besser gemacht?
Es folgte der übliche Riss im konzeptuellen Gebälk: Pause. Währenddessen die Mitglieder des Orchesters in Abendrobe auf der Bühne eine mondäne Party simulierten, die zur Dekadenz von Alban Bergs „Lulu-Suite“ überleiten sollte. Schön gemacht! Dennoch wurde einem nicht ganz offenbar, warum die Suite ans Ende des von Jochen Sandig in Szene gesetzten Abends gestellt wurde, was nach der furiosen, vom Publikum mit herzerwärmender Begeisterung aufgenommenen Darbietung von „Still“ ein wenig drangeklebt wirkte. Bergs morbides Opern-Konzentrat hätte nach dem „Tristan“-Vorspiel eigentlich mehr Sinn ergeben und die Performance von „Still“ wäre zum verdienten Höhepunkt avanciert. Das schmälerte allerdings nicht die Wirkung dieser betörend pseudo-romantischen Orchestersuite mit Sopran (Ana Dorlovski) in Zwölfton-Verkleidung, die beim jungen Orchester in allen Farben leuchtete und an abgründiger Verführungskraft nichts zu wünschen übrigließ. Ende eines großartigen Eröffnungsabends des Kunstfestes, der zugleich ein großer Abend der Kunst war, weil er exemplarisch vorführte, dass Kunst immer dann passiert, wenn der Status Quo ausgehebelt wird, um in neue Bezirke der Wahrnehmung aufzubrechen! Dass man in Weimar auch nur darüber nachdenkt, ein Festival wie das Kunstfest nicht mehr ausreichend zu unterstützen, ist schier nicht zu glauben ... Hauptsache das Goethe-Denkmal wird regelmäßig geputzt! Damit der Tourist auch weiß, wo er „zu Hause“ ist ...
Weitere Musiktermine beim Kunstfest (19.8.-4.9. 2016):
2./3./4. 9.: Evros-Walk Water, Rimini Protokoll. Erarbeitung von John Cages „Water Walk“ mit geflüchteten Kindern aus Afghanistan, Irak und Syrien.
3.9.: Der aufgefaltete Raum, Schlagquartett Köln. Stücke von Carola Bauckholt, Nicolaus A. Huber, Vinko Globokar u. a.