„Volatil“ sind derzeit weltweit fließende Geldmengen, daran hängende Entscheidungen und damit auch Menschen. War 1860, zu Zeiten von Verdis Komposition, eine Handlung zwischen Spanien, seinen mittelamerikanischen Kolonien, Österreich und Italien ein alle klassischen Theaterregeln sprengende „Unglaublichkeit“ – so kann das aus heutiger Sicht auch „die ganze Welt“ sein – so in der Frankfurter Neuinszenierung.
Verdis „Forza“ verlangt sechs erstklassige Solisten, bevorzugt einen Tenor, dem man seine Abstammung von den vernichteten Inkas bis hin zum Schimpfwort „Mulatte“ abnimmt. So wird die Problematik seiner Liebe zu einer Frau aus dem alten spanischen Adel an- und einsichtig. Doch Frankfurts Sopran-Entdeckung Michelle Bradley ist farbig und Tenor Hovhannes Ayvazyan kommt aus Armenien. „Das interessiert mich“ sagte Regisseur Tobias Kratzer in den lange zurückliegenden Konzeptionsgesprächen und thematisierte dies in einer „volatilen Welt“.
Die Rückwand von Ausstatter Rainer Sellmaiers weißem Raum ist eine Filmleinwand. Während real die schwarzhaarige, farbige Leonora auf ihren weißhäutigen Liebhaber Alvaro wartet und den Grandseigneur von Vater verabschiedet, läuft hinten eine gespiegelte Film-Handlung: eine weiße, blonde Leonora - wie aus „Vom Winde verweht“ – schwankt zwischen Familienbindung, Liebe und Flucht – und herein stürzt ein farbiger Hüne von Alvaro in verschwitztem Hemd und Arbeitshose - wie eben von den Baumwollfeldern aufgebrochen. Bewegungen und Gänge laufen fast gänzlich synchron – und so stellte sich der Effekt ein: was ist jetzt echt und wer ist wirklich gemeint? – und alle „rassische“ Zugehörigkeit ist ad absurdum geführt, nicht nur für die Bühnenhandlung, sondern auch im Erleben des Zuschauers.
Dementsprechend „volatil“ gehen Kratzer und sein Bühnenteam auch mit den folgenden Schauplätzen um. Die Wirthausszene ist eine blitzsaubere Männerfeier in historischen Kostümen der Südstaaten-Unionisten, die auf eine Lincoln-Scheibe wettschießen, wozu Preziosilla als grell-sexy Salon-Lady mit Pin-up-Glamour singt und tanzt. Doch die vermeintliche Gaudi zerbricht in Erschrecken: alle – speziell der von Tilman Michael hoch differenziert einstudierte Chor – sind durch große Kopfmasken im Körpereindruck „verzwergt“, eben Spielmaterial im Millionen Tote kostenden Sezessionskrieg – oder jedem Krieg…
Leonoras Flucht zu Padre Guardiano – als Vater-Figur mit dem Sänger des eingangs getöteten Vaters gleichgesetzt - führt in eine rigide Kongregation des amerikanischen „Bible Belt“. Die letztlich unchristlichen Bannflüche in Verdis Komposition münden in eine Ku-Klux-Klan-Feier mit brennendem Kreuz – heutig, nicht vorgestrig, wie Spike Lees Film „Blackklansman“ eben im Kino zeigt.
Verzweiflung kann sich in selbst-mörderischen Aktionismus flüchten: in damals ferne Kriegsschauplätze, in unserem Horizont eben in das Vietnam von „Apocalypse Now“ als Filmhintergrund. Tatsächlich wirkt Alvaros existentielle Klage „La vita è inferno all’infelice“ auf einem Drahtgestell-Bett im Dschungelcamp genauso wie im italienischen Campagna-Dreck des 19.Jahrhunderts. Konsequent gleitet Preziosilla mit zwei weiteren „Bunnies“ aus dem projizierten Hubschrauber herab und entschwindet auch wieder „in den Himmel“ aller Soldatenträume. Und der auf Vatermord-Rache und Familienehre und Rassereinheit manisch fixierte Don Carlo gleicht heutigen Fanatikern.
Die Bildwirkungen von Krieg, Armenspeisung mit Obama-Michelle-Figuren im Hintergrund und Leonoras „Klause“ als 0/8/15-Motel-Zimmer sind schon in Verdis Erstfassung lang und überzeugten inszenatorisch nicht so ganz. Damals war auch das Finale mit dem Tod des Don Carlo, der noch die „sündige“ Leonora ersticht, was Alvaro zum Selbstmord veranlasst – also der Tod der drei Hauptpersonen für das Opernpublikum schwer erträglich. Jetzt regte wohl außerdem Kratzers Finalzutat einen Gutteil des Premierenpublikums zum Protest an: Leonoras Vater und Pater Guardiano taucht hier als bulliger Polizist auf, erschießt Alvaro und drückt ihm Don Carlos Pistole, sorgfältig abgewischt, in die Hand, um so eine „Bluttat eines Farbigen“ zu inszenieren – zur Wirkung brauchte es kein aktuelles Präsidial-Foto. Vielmehr blieb der Zuspieler einer Rede Martin Luther Kings hängen: „Somehow this madness must cease – Dieser Wahnsinn muss aufhören“. Da fühlten sich viele Premierengäste nicht in ihrem Hier und Heute wohl – und buhten. Musiktheaterfreunde fühlten sich darin bestätigt, dass Oper eben auch eine politische Kunst ist, dass Klassiker eben zu allen Zeiten ihre Gültigkeit beweisen, eben auch schmerzhaft.
Doch der Schmerz tönte faszinierend – bis in die von Craig Colcloughs bösartigem Melitone angeführten Nebenrollen. Michelle Bradley trägt zurecht den „Leonie-Rysanek-Award“: wie bei der Unvergessenen klingen nicht alles – speziell in der Fortissimo-Höhe – immer belcantesk rein, doch die glutvolle „gran espansione“ strahlte emotional durchs ganze Haus; die Zurücknahme ins Piano raubte einem den Atem. Fulminant die Brachialität des Don Carlo von Bariton Christopher Maltman. Tanja Ariane Baumgartner vereinte alle genannten Preziosilla-Reize äußerlich und im flexiblen Mezzosopran. Franz-Josef Selig trat aus den deutschsprachigen Rollen in die großen Fußstapfen der Vorgänger Siepi-Ghiaurov-Talvela-Moll: ebenbürtig. Und Hovhannes Ayvazyans Alvaro war ein überzeugender Außenseiter. Sie alle und auch Dirigent Jader Bignamini wurden gefeiert: für einen besonderen Verdi-Abend – eben nicht „süffig“ oder nur „schwelgerisch“, sondern kantig und immer straff – also auch da herausfordernd, attackenreich verunsichernd in unser aller vermeintlichen Sicherheit.