Die Oper „Hänsel und Gretel“ machte Engelbert Humperdinck zwar auf einen Schlag weltbekannt und gewissermaßen zum „musikalischen Märchenerzähler der Nation“. Aber er war mehr, war eine imposante Erscheinung im Musikleben seiner Zeit, „Repräsentant der Gründerzeit“. Neben der Deutschen „Waldoper“, die ja mitnichten eine Kinder- und Weihnachtsoper ist (ein krasses Missverständnis), schrieb er weitere 14 Opern, eine Reihe von Chor- und Orchesterwerken, Lieder und viel Kammermusik. Neun Schauspielmusiken komponierte er, darunter für den Berliner Regisseur Max Reinhardt. Humperdinck war einer der bedeutendsten Künstler im Deutschen Kaiserreich (so sein Biograf Matthias Corvin).
Enttäuschend: Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ an der Komischen Oper Berlin
Thomas Mann zum Trotz, der in Humperdinck „den deutsch-bürgerlichen Teil des Wagner-Erbes erblickte, mit „Käppchen-Meistertum und Treufleiß“ widersprach der Kulturkritiker und Opernkenner Oskar Bie schon 1923 und behauptete, Humperdinck und Strauss seien „die zwei Pole der modernen Musik“. Aber selbst Paul Bekker, der große Musikwissenschaftler der Weimarer Republik sah in Engelbert Humperdinck 1908 nur den „gemütlichen Hausvater“ und musikalischen „Märchenonkel.“ Eine Fehleinschätzung, die bis heute nachwirkt.
Als Professor an der Akademie der Künste in Berlin zählten so diverse Komponisten wie Manfred Gurlitt, Kurt Weill, Friedrich Hollaender, Robert Stolz und viele andere zu seinen Schülern. Humperdinck tauschte sich mit vielen berühmten Komponisten seiner Zeit aus, u.a. mit Richard Strauss, Giacomo Puccini und Hugo Wolf, Max von Schillings, Ermanno Wolf-Ferrari, aber auch mit Dirigenten wie Arthur Nikisch, Hermann Levi und Felix Mottl. Er blickte stets über seinen Tellerrand, war neugierig, aufgeschlossen für Neues und diskussionsfreudig, kurz: Er war auf der Höhe seiner Zeit, wie man in dieser neuen Biographie erfährt.
Natürlich war Humperdinck zeitlebens bekennender Wagnerianer, aber er fand doch seinen eigenen musikalischen Tonfall und segelte kompositorisch durchaus nicht im Fahrwasser seins Idols. Alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit dominiert Humperdincks spätromantische Oper „Hänsel und Gretel“ die Musiktheaterspielpläne. Zwar spielt das Märchen der Brüder Grimm, das Humperdincks Schwester Adelheid Wette als Vorlage für das Libretto diente, im Frühsommer und hat mit dem Christfest nichts zu tun. Aber das Lebkuchenhaus der Hexe, gebaut aus dem Material, das seit Jahrhunderten als Advents- und Weihnachtsgebäck in aller Munde ist, fordert seinen Tribut.
Humperdinck vertonte zunächst nur einige Verse des Stücks für eine häusliche Theateraufführung, erweiterte es später zu einem Singspiel und schließlich zu einer abendfüllenden Oper, die er in Anlehnung an Richard Wagners „Parsifal“ ein „Kinderstubenweihefestspiel“ nannte und die sich seit ihrer Uraufführung am 23. Dezember 1893 am Weimarer Hoftheater unter dem Dirigat von Richard Strauss zu einer der beliebtesten Opern überhaupt entwickelte. Auch reizte das psychoanalytisch wie sozialkritisch ausdeutbare Märchensujet der Oper Regisseure immer wieder zu Inszenierungen für ausschließlich erwachsene Zuschauerinnen und Zuschauer. Gräueltaten wie Kindesmissbrauch und Kannibalismus zeigten etwa David Pountney 1987 an der English National Opera, Nigel Lowery 1997 in Basel oder Giancarlo del Monaco 2005 in Erfurt. Daneben erweisen sich klassische Inszenierungen des Stoffs als Dauerbrenner des Repertoires.
„Engelbert Humperdincks große Märchenoper für die ganze Familie“ (wie das Haus in seinem Ankündigungstext schreibt) ist nun zurück auf der Bühne der Komischen Oper im Berliner Schillertheater. Nach dem großen Erfolg ihrer Inszenierung von „Pippi Langstrumpf“ nimmt sich Dagmar Manzel „einen weiteren Klassikerstoff der Kinderliteratur“ vor, so liest man. Was für eine Fehleinschätzung. „Hänsel und Gretel“ gehört mitnichten zur Kinderliteratur. Für Kinder ist die hochkomplexe Musik Humperdincks meist zu schwer. Die Handlung des Librettos hingegen für heutige Maßstäbe zu leicht, um nicht zu sagen zu unzeitgemäß und zu läppisch: Heutige Kinder bevorzugen ganz andere Märchen und Mythen etwa aus dem Science-Fiction-Bereich. Viele Kinder (mit ihren erwachsenen Begleitern) verließen denn auch bei der Premiere die Komische Oper schon in der Pause. Kein Wunder. Dagmar Manzel bleibt mit ihrer Lesart, die duftig-anthroposophisch-leicht daherkommt, ganz an der Oberfläche des Stücks. Das enorme Tiefen-Potential der Oper hat Dagmar Manzel verschenkt.
Die Oper „Hänsel und Gretel“ ist ein Werk, das man zurecht als eine der am meisten missverstandenen Weihnachts- und Kinderopern bezeichnen darf. Immerhin werden in dem Stück Kinder ermordet und zu Lebkuchen verarbeitet. Von den tiefenpsychologischen Grausamkeiten ganz zu schweigen. Siegmund Freud und Bruno Bettelheim lassen grüßen. Es geht aber auch in „Hänsel und Gretel“ um Armut, die Monster gebiert, Hexen nämlich, und wenn man so will, um frühkapitalistische Gesellschaftskritik. Man könnte das Stück durchaus als Sozialdrama inszenieren. Doch davon will Dagmar Manzel nichts wissen,
Ihre „nette“ Inszenierung hat keinerlei verführerischen oder gar mitreißenden Zauber, keine märchenhafte Magie, keine bezwingende Kraft, alles bleibt nur angedeutet, bleibt vage und ohne jede suggestive Kraft trotz aller surrealen Überzuckerung. Der Wald ist kein Wald, es hängen nur ein paar übergroße transparente Blätter vom Bühnenhimmel herab. Baumskelette haben Hände und Gesichter und können gehen, ja sogar tanzen. Sie wirken wie über große Alraunen (Bühnenbild: Korbinian Schmidt). Das Hexenhaus der Knusperhexe ist eine abstrakte goldene Papierschachtel mit Beinen. Nicht zu verwechseln mit dem Haus der Baba Yaga (das im Programmheft erwähnt wird). Wie das aussah, hat man zuletzt sehr eindrucksvoll in der Leipziger „Rusalka“ gesehen). Die Knusperhexe (ein verkleideter Tenor) ist eine nette Oma von nebenan, mit Dutt und in bunter Kittelschürze und hellgrüner Strickjacke (Kostüme: Victoria Behr).Von Dämonie keine Rede. Der Backofen, in den sie von den Kindern gestoßen wird, ist ein quergelegter eiserner Kanonenofen, der hereingefahren wird. Nach vollbrachter Tat setzen sich die Kinder lustig darauf, ihre Hinterteile scheinen hitzeunempfindlich zu sein in dieser Inszenierung. Die vierzehn Englein des Abendsegens tanzen groteskes Feder-Ballett, ein Artist ist auch dabei, er darf hoch in der Luft am Seil seine Kunststücke vollziehen. Eine Hieronymus Bosch-Figur läuft gelegentlich über die Bühne, einige andere Phantasiewesen treten ebenfalls auf, mitsamt einem Zwerg als blaugewandter Zauberer. Das Sandmännchen im Rollstuhl wird von einem bärtigen Greisen hereingefahren. Das Taumännchen sieht aus wie eine als Lampenschirm verkleidete Frau. Von den vielen eingeschmuggelten Geheimniskrämereien, Symbolen und Anspielungen, hinzuerfundenen Wesen wie eine Katze mit glühenden Augen, einem himmlischen Kind, einem Komödianten und gleich einer ganzen Schar Kinderhexen, die auf Besen reiten, zu schweigen. Die Mystifizierung des Werks wird von reichlich verquasten Äußerungen über die Darstellung zweier Glücksvögel aus Horst Sagerts Kunstwerk „Das eudämonische Amulett“, über Heidi Buchers Mittelalter-Illustrationen und ein angeblich bis heute unentschlüsseltes Voynich-Manuskript im Programmheft unterfüttert. Am Ende dann großes Betroffenheitstheater der befreiten Kinder (in grauen Klamotten) an der Rampe. Demonstration des vermeintlich unbesiegbaren Glaubens an das Gute als chorischer Schreigesang zum marschartigen Schluss, den Humperdinck 1894 für eine Inszenierung des Stücks durch Cosima Wagner in Dessau nachkomponierte.
Geschrien hat aber nicht nur der Kinderchor der Komischen Oper. Auch die Gesangssolisten der fünf großen Rollen haben durchweg zu laut gesungen. Was nicht unwesentlich an der Dirigentin lag, die in ihrer Begeisterung für Humperdinck das Stück zu laut spielen ließ. Sie gab dem Affen Zucker und entfaltete den Zauber dieser Musik quasi im Hochformat. Dabei ist die taiwanesische Dirigentin Yi-Chen Lin eine der unzweifelhaft talentiertesten und international erfolgreichsten Frauen am Pult. Sie bewies ihre genaue Kenntnis Humperdincks und entfaltetet eindrucksvoll die Polyphonie der Humperdinckschen Musik, seinen quasi Wagnerischen Instrumentationszauber und auch die intimen Schönheiten der raffinierten Partitur.
Ein erfreulicher sängerischer Lichtblick der Aufführung ist Günter Papendell. Er besticht durch Gesangskultur, Stimmschönheit und Wortverständlichkeit. Papendell singt einen kraftvoll-virilen Besenbinder, wie er besser wohl kaum gesungen werden kann. Ulrike Helzel als Mutter ist hingegen nur schrill, laut und unverständlich. Auch der Hänsel von Susan Zarrabi und die Gretel von Alma Sadé singen nicht gerade kindlich. Wobei man gestehen muss, dass es kaum je glaubwürdig ist, wenn gestandene Sängerinnen so tun, als seien sie unschuldige Kindlein.
Die Knusperhexe von Daniel Kirch entbehrt aller Dämonie und wird fast im Heldenformat gebrüllt und auch Sandmännchen und Taumännchen (Julia Schaffenrath) haben gar nichts märchen- oder feenhaft Feines in der Stimme.
Fazit: Diese „Hänsel und Gretel“-Aufführung an der Komischen Oper ist – abgesehen von einer Sängerleistung – eine Enttäuschung auf ganzer Linie.
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