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Erfindungsreiches Laboratorium der Liedkunst

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Die „Liederwerkstatt“ des Kissinger Sommers hat sich erneut mit Goethe verbündet
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Goethe schätzte Vertonungen seiner Gedichte nur, wenn diese mit den Gedichten übereinstimmten: „Deine Kompositionen fühle ich sogleich mit meinen Liedern identisch“, schreibt er entflammt Freund Zelter, seinem musikalischen Berater. Mit „Liedern“ meint er: seine Gedichte. Zelter ist auch der Adressat von Goethes berühmter Definition der Liedvertonung: „…. die Musik nimmt nur, wie ein einströmendes Gas, den Luftballon mit in die Höhe.“ Bei fremden Komponisten, so Goethe an Zelter, müsse er „erst aufmerken, wie sie das Lied genommen, was sie daraus gemacht haben“. Anders gesagt: Goethe huldigt der Werktreue, fürchtet die persönliche Handschrift der Komponisten, den musikalischen Eigensinn. Wie er auf die „Liederwerkstatt“ von Bad Kissingen reagiert hätte, kann man sich ausmalen.

Ein Laboratorium der Liedkunst wie dieses gibt es vermutlich nirgends auf der Welt. Die Versuchsanordnung lautet: Dichter der Vergangenheit treffen auf Komponisten der Gegenwart, die sich von deren Gedichten zur Vertonung herausgefordert fühlen. So entstehen entweder poetisch einfühlende, diskursive oder exzentrisch spekulative, auf jeden Fall ausdrucksstarke neue Klavierlieder. Die Besonderheit dieser im Festival Kissinger Sommer verankerten „Liederwerkstatt“: In jedem Jahrgang geht es nur um einen einzigen Dichter und seine lyrischen Erzeugnisse. Aber in den Konzerten wird neu und alt gemischt, gesellen sich zu den brandneuen Liedern lebender Komponisten die Vertonungen der Kollegen der Vergangenheit – die oft rasante Mischung ist es, die in solchen Konzertprogrammen triumphiert. Das reicht dann von Zelter bis Schönberg, von Beethoven bis Eisler, von Reichardt bis Reimann und Rihm.

Es versteht sich, dass im Kissinger Liederlabor die zeitgenössischen Komponisten das Salz in der Suppe sind. Sie reisen mit ihren neu geschaffenen Liedprodukten in die fränkische Kurstadt mit den schönen historischen Konzertsälen, sie lassen sich überraschen, wie eine Handvoll Sängerinnen, Sänger und Pianisten ihre auf frischem Papier gelieferten Liedkompositionen in Musik verwandelt. Und wie zum Beispiel die Tonsetzer Wilhelm Killmayer und Aribert Reimann auf Ludwig van Beethoven und Robert Schumann reagieren, wie Manfred Trojahn und Jan Müller-Wieland oder Moritz Eggert auf Richard Strauss und Felix Mendelssohn antworten, manchmal mit denselben lyrischen Texten. So schafft man musikalische Begegnungen der dritten Art.

Bei der Kissinger Liederwerkstatt waren schon viele Autoren der lyrischen Weltliteratur zugegen, die den Komponisten ihren „Stoff“ zum Vertonen lieferten und noch heute liefern – so Friedrich Hölderlin und Heinrich Heine, Eduard Mörike und Friedrich Rückert, Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff und Rainer Maria Rilke, Friedrich Schiller und William Shakespeare. Desgleichen die italienischen Renaissance-Meister Francesco Petrarca und Michelangelo Buonarroti.

Goethe war jetzt zum zweiten Mal an der Reihe. Es lässt sich philosophieren und spekulieren über die Deutschen und ihre Innerlichkeit, über die Tiefe ihrer Musikalität – so wie es Thomas Mann, der Goethe-Adept, getan hat. „Goethe und die Musik“, das ist ein weites Feld. Die Kissinger Liederwerkstatt will grundsätzlich sein und lässt zu Beginn, bevor die Resultate in Konzerten präsentiert werden, den Dichter und sein Verhältnis zur Musik Revue passieren. Der Münchner Jurist und Musikpublizist Christian Kröber moderiert die Matinee-Einführung, neben ihm sitzen Komponisten, die Auskunft darüber geben, in welcher ästhetischen, textkritischen und musikalischen Absicht sie dieses oder jenes Gedicht zur Vertonung ausgewählt haben.

Aribert Reinmann bekennt sich zum zweiten Monolog der Stella aus Goethes gleichnamigem Schauspiel von 1775, er nennt die emotionale Modernität einer in panischer Liebe zerrissenen Frau das Motiv seiner Textwahl. Reimann zeigt sich tief berührt von diesem Text, den er in einen Szenenmonolog verwandelt („Der Blick war’s, der mich ins Verderben riss“) – emotional bewegt davon, „wie einzigartig Goethe mit dieser Frau umgegangen ist“. Was im Konzert erklingt, bei der Uraufführung durch die Sopranistin Caroline Melzer, ist tatsächlich der auskomponierte Prozess einer weiblichen Verzweiflung, ist die Seelenhysterie einer Schwester der antiken Medea. Dazu bedient sich Reimann, bei ihm ungewohnt, verfremdender Effekte einzelner, dumpf perkussiver, also „präparierter“ Klavierklänge. Er liefert eine verkappte Opernszene, eine hochdramatische Steigerung albtraumhafter Selbstbespiegelung, seine Musik reagiert mit heutigem Erschrecken auf das lyrische Schmerzenspathos des jungen Goethe: „O, dass ich ohne Gedanken wäre, dass ich in dumpfem Schlaf mein Leben hingäbe.“

Die zwei Konzertprogramme der Kissinger Liederwerkstatt, die der Berliner Pianist und Liedprofessor Axel Bauni dramaturgisch glänzend zusammengestellt hat, haben es in sich. Bauni ist künstlerischer Leiter der Liederwerkstatt mit ihren simultanen Probenprozessen, in die vier Sängerinnen und Sänger (neben Caroline Melzer Olivia Vermeulen, Karol Kozlowski und Wolfgang Holzmair) sowie drei Pianisten (neben Axel Bauni Siegfried Mauser und Jan Philip Schulze) kongenial eingebunden sind. So wird Reimanns Stella-Monolog flankiert von älteren Goethe-Vertonungen, etwa von Beethovens „Wonne der Wehmut“ und „Sehnsucht“ sowie von Schuberts „Wanderers Nachtlied“. Spannungsvolle Konfrontationen.

Es folgen vier neue, zwischen Leicht- und Fremdsein schaukelnde Goethe-Lieder Manfred Trojahns: das atmosphärisch dichte „Anliegen“ („O, schönes Mädchen, du“), das ausgelassen poltrige „Frech und Froh“ sowie „Wonne der Wehmut“, wo Flehen und Erschrecken fast verschmelzen. Nach weiteren Schubert-Liedern und Hanns Eislers „Goethe-Fragment“ überraschen zwei neue Goethe-Vertonungen Wolfgang Rihms: In „Sehnsucht“ („Was zieht mir das Herz so?“) gelingt es ihm, die streng gedanklichen Linien einer schwermütigen Ich-Empfindung am Ende in den emotionalen Aufschwung neuen Glücks zu überführen, indem er Goethes doppelbödiger Naturvision mit größter Genauigkeit bis in ihre inneren Verästelungen hinein folgt. Goethes bekanntem „Nachtgesang“ lauscht Rihm den beschwörend existentiellen Gestus ab und lässt ihn in schwerblütige Befangenheit einmünden: „Schlafe! Was willst du mehr?“

Eingezwängt zwischen Robert Schumanns „Nur wer die Sehnsucht kennt“ und vier Goethe-Liedern von Johannes Brahms dann der gelungene Versuch des 1966 geborenen Hamburger Komponisten, Henze-Schülers und Münchner Kompositionsprofessors, Jan Müller-Wieland, mit einer Textmontage namens „Gretchens Engel“ sowohl Goethes „Urfaust“ als auch Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“ zu einer existentiellen Szene emotionaler Hochspannung zusammenzuzwingen. In schärfstem Kontrast dazu das „Gleichnis“ des 1957 geborenen Österreichers Bernhard Lang, der auch hier seiner Kompositionsmanier der zersprengten Worte, seiner durch stete Wiederholung der Klangmotive erzeugten Anti-Expressivität treu blieb. Moritz Eggert steuerte mit „Die Glocken von Uschi“ eine experimentelle Musiktheateralbernheit bei, während sein Lehrer Wilhelm Killmay­er trotz altersbedingter Abwesenheit mit seinem 2007 komponierten „Heidenröslein“ noch mit dabei war. Killmay­ers musikalische Handschrift ist ganz nahe bei dem kleinen Gedicht um die stechenden Rosendornen und den wilden Knaben: Mit kontrastreichen Klangmotiven lässt er ein Versdramolett der Verstörung entstehen. 

Die zwei Konzerte der Liederwerkstatt im schönen Rossini-Saal des Kissinger Regentenbaus waren ausnahmslos gut besucht. Ebenso füllte das Kissinger Musikpublikum den großen, prachtvoll holzgetäfelten und akus-tisch idealen Littmann-Saal. Hier fanden vier Wochen lang die Darbietungen des Kissinger Sommers statt, die Festival-Intendantin Kari Kahl-Wolfsjäger auch diesmal mit kluger Phantasie zusammengestellt hatte – all die Orches-ter- und virtuosen Solistenkonzerte und Gala-Abende mit hochkarätigen Künstlern, die sie erstaunlicherweise immer wieder in die fränkische Provinz zu locken versteht. So wie die lebenden Komponisten der schon jetzt legendä-ren Liederwerkstatt.
 

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