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Erfolgreicher Sprung in die Gegenwart

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Immer noch ergiebig: Das Festival „Raritäten der Klaviermusik“ in Husum
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Keineswegs bedeutet das den Griff in die Mottenkiste der Salonmusik, der Sprung vom „Goldenen Zeitalter des Klaviers“ in die Gegenwart ist gelungen, auch mit einer jungen, unbefangenen Pianistengeneration. Mit den hämmernden Clustern der Sonate Nr. 6 von Galina Ustwolskaja sorgte Alexej Lubimow für interessierte Empörung, während Fazil Say Anton Weberns Variationen op. 27 ausgesprochen klangvoll-expressiv darbot, sie allerdings mit fragiler Klarheit vom schwärmerisch ausladenden Sonatensatz von 1906 absetzte. Beide Pianisten überzeugten durch originell „komponierte“ Programme.

Gegen die stete Rationalisierung, Trivialisierung, Monopolbildung des Konzertlebens gilt es Zeichen zu setzen. Die Husumer „Raritäten der Klaviermusik“ sind hier geradezu vorbildlich. Mit seinem Gespür für die Qualitäten vernachlässigter und vergessener Werke, die vor allem das Flair des Instruments zur Geltung bringen, mit seinem leidenschaftlich darüber wachenden Hörerkreis ist das kleine, feine Festival an der Nordseeküste immer noch einzigartig in ganz Europa. Keineswegs bedeutet das den Griff in die Mottenkiste der Salonmusik, der Sprung vom „Goldenen Zeitalter des Klaviers“ in die Gegenwart ist gelungen, auch mit einer jungen, unbefangenen Pianistengeneration. Mit den hämmernden Clustern der Sonate Nr. 6 von Galina Ustwolskaja sorgte Alexej Lubimow für interessierte Empörung, während Fazil Say Anton Weberns Variationen op. 27 ausgesprochen klangvoll-expressiv darbot, sie allerdings mit fragiler Klarheit vom schwärmerisch ausladenden Sonatensatz von 1906 absetzte. Beide Pianisten überzeugten durch originell „komponierte“ Programme. Dennoch zeigte sich hier – als vielleicht nicht ganz unproblematische Tendenz? – ein gewisses Übergewicht unbekannter Werke mehr oder weniger etablierter Komponisten. Beethovens sperrige Fantasie op. 77 oder seine verrückten Variationen über den russischen Tanz aus Paul Wranitzkys Ballett „Das Waldmädchen“, früher Schubert und später, schon atonaler Liszt, auch eine sanft tröpfelnde „Ballade slave“ von Claude Debussy – das sind gewiss willkommene Repertoire-Bereicherungen, die ihr Schattendasein dem Unterlaufen mancher Hörerwartung verdanken. Doch die eigentlichen Entdeckungen liegen woanders, bei angeblich zweitrangigen Komponis-ten, deren Wirkung allerdings auch stärker von faszinierender Wiedergabe abhängt. Umso bedauerlicher, dass die „Thème et Variations“ von Camille Chevillard, „La Source enchantée“ von Théodore Dubois oder „Prélude, Récitatif et Final“ des Dukas-Schülers Tony Aubin in Vladimir Stoupels Klavierabend nur blass-korrekt ausgeführt erschienen. Die Nacht- und Lichtseiten des Tastenlöwen Eugen d’Albert ließ Andreas Bach mit dessen pathetisch-vergrübelter Ballade h-Moll und einem elegant prickelnden Scherzo aus dem op. 16 aufblitzen. Verschrobene kleine Genrebilder, zu manch überraschenden Klangfinessen fähig, sind die „24 Pensées fugitives“ des jung verstorbenen Alexis des Castillon, der sich gemeinsam mit Camille Saint Saëns und Henri Duparc um eine nationale Erneuerung der französischen Musik bemühte. Für Frederic Chiu, Amerikaner chinesischer Abstammung mit starkem Interesse an nicht-avantgardistischer Moderne, etwa an der Musik Karl Amadeus Hartmanns, stehen sie gleichwertig neben Schumanns „Album für die Jugend“, ohne dass er ihren Grundton naiver Poesie immer richtig zu treffen vermochte. Dafür ist dieser Prokoffiew-Spezialist, dem mit der „Pensée“ op. 62 Nr. 3 eine bemerkenswerte „Ausgrabung“ von surrealistischer Farbigkeit gelang, einfach zu temperamentvoll. Hochinteressant auch seine Präsentation des New Yorkers Charles Griffes: Ist „The Lake at Evening“ (1911) noch impressionistisches Glitzerwerk, so entfaltet die Sonate von 1917/18 beachtliche dissonante Aggressivität. Bunt und fantasievoll, von intuitiver Stimmigkeit, manchmal auch gegen das strenge Regiment des erwiesen guten Geschmacks aufmuckend, so lud die „Raritäten“-Kiste auch diesmal zum Stöbern und Entdecken ein. Dass sie so schnell nicht leer werden wird, dafür sorgen auch kulturelle Verdrängungs- und Umschichtungsprozesse, die selbst eine Bach-Suite, hier vom „Einspringer“ Piotr Anderszewski minutiös ausgefeilt, zum seltenen, „historisch“ geächteten Klavierereignis werden lassen.

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