Mit der Entdeckung von Giuseppe Scarlattis „I portentosi della Madre Natura“ (Die wundersamen Wirkungen von Mutter Natur) landete Dorothee Oberlinger bei den Musikfestspielen Potsdam Sanssouci auf ihrer Suche nach Werken für den preußischen Hof einen Volltreffer.
Die Oper auf ein Textbuch von Carlo Goldoni wurde von den Musikwissenschaftlern Francesco Russo und Giovanni Benvenuti aufführungstauglich eingerichtet. Für die Zwischenmusiken unternahm Oberlinger Anleihen bei Pergolesi. Die Vorstellungen bei Musica Bayreuth am 7. und 8. Juli sollte man sich wegen der tollen Besetzung, des glänzenden Ensembles 1700 und der feinen Regie des französischen Filmregisseurs Emmanuel Mouret nicht entgehen lassen.
Der mit den älteren und bekannteren Brüdern gleichen Namens nichts zu tun habende Giuseppe Scarlatti (1718-1777) ist im Kommen. Nach seiner Kantate „Amore prigioniero“ im Liebhabertheater Schloss Kochberg unter Gerd Amelung versuchte es die Potsdamer Festspielleiterin Dorothee Oberlinger mit Scarlattis opera buffa „I portentosi della Madre Natura“. 1763 und 1764 (zur Verlobung des Kronprinzen Friedrich Wilhelm II) sind Vorstellungen in Berlin beziehungsweise in der Orangerie des Schlosses Charlottenburg belegt, uraufgeführt wurde die heute wieder höchst wirkungsvolle Oper 1752 in Venedig. Die Wiederbelebung funktionierte fulminant.
Mit diesem Stück könnte Cimarosas „Die heimliche Ehe“ eine ernstzunehmende Repertoire-Kokurrenz bekommen. Bekanntermaßen war die opera buffa in der Mitte des 18. Jahrhunderts gegenüber der etwas steiferen opera seria das fortschrittlichere Genre. Auch in Scarlattis „Wundersamen Wirkungen“ findet man schon einige Szenenmuster, wie sie Mozart später noch im „Figaro“ verwendet hatte. Die Formen und Fakturen der Arien und (wenigen) Ensembles Scarlattis sind überraschend nah an Mozart, Paisiello, Simon Mayr. Auch eine musikalische Individualisierung der Figuren ist bei Scarlatti in Ansätzen erkennbar.
Im Schlosstheater des Potsdamer Neuen Palais findet das Stück den genau richtigen Aufführungsort. Das Festspielmotto „Inseln“ reicht bis zum hier allerdings nicht als solches erkennbaren Ferienparadies Mallorca. Dorothee Oberlinger hat eine Schwäche für Schäferspiele – soeben bewiesen mit der CD-Produktion ihrer Telemann-Produktion „Pastorelle en musique“. Auf der Potsdamer Edel-Bühne läuft aber einiges anders. Flirts und Balz haben schließlich nicht nur Urlaubs-, sondern auch Alltagsrelevanz. So richtig toxisch wird es hier zum Glück nicht. Die Frauen wissen sich bestens zu wehren und Männer, egal auf welcher Sprosse der sozialen Stufenleiter, wollen eh nur das Eine. Schon Goldoni wusste, dass bei wahrer Liebe und offenen Beziehungen klare Absprachen von Vorteil sind.
Anders als in Emmanuel Mourets preisgekröntem Film „Les Choses qu'on dit, les choses qu'on fait“ machen die Figuren in Goldonis Libretto, das politische Korruption in einer pastoralen Utopie auflöst, keinen Unterschied zwischen Reden und Tun. Aus der Schäfchen-Idylle wurde im Schlosstheater eine zum Rotgold des Zuschauerraums kontrastierende raumfluide Bürolandschaft in Holz, Beige und Grau. Telefone mit Spiralkabeln und E-Schreibmaschinen lassen auf Mitte des 20. Jahrhunderts schließen – oder eine Bananenrepublik im Investitionsstau, deren Machthaber seine Zeit- und Finanzreserven bei Seitensprüngen und Couturiers der gehobenen Klasse anlegt.
Der echte Thronanwärter Celidoro lebt vorerst im Unwissen über seine wahre Identität mit nur wenig Kontakt zur Zivilisation dahin. Der attraktive Diktator Ruggiero hält ihn, den Sohn seines entmachteten Politgegners, im Unwissen über Herkunft und zukünftige Aufgaben. In einem sind sich der smarte Tyrann und der juvenile Sympathiebolzen aber absolut ebenbürtig: In ihrer Lust auf taktilen Spaß mit dem progressiven Facility-Management, das in David Faivres variabler Bürolandschaft bis zu schweren Reparaturen ausschließlich im fraulichen Vollverantwortungsbereich liegt. Es dauert drei Stunden Opern- und echtes Komödienglück, bis Celidoro auf den galanten Monarchenhügel gelangt und Ruggiero mitsamt geplagter Gattin Lisaura huldvoll zum östlichen Teil der Insel wegkomplimentiert.
Emmanuel Mourets Operndebüt – nicht selbstverständlich bei Filmregisseuren – klappt bestens mit psychischer Beschwingtheit, feiner Charakterzeichnung und sich wie zufällig ergebenden Pointen. Das Ensemble kommt mit Lockerheit in die Gänge. Man weiß nicht genau, auf welche Impulse des Dirigats oder der musikalischen Einstudierung durch Gerd Amelung und Sergio Ciomei das zurückgeht. Der ganze Abend gerät zu einer leichtgewichtigen, stilsicheren und in den richtigen Momenten virtuos zupackenden Glanzleistung. Oberlinger geht mit dem Ensemble 1700 Scarlattis zahlreiche Arienjuwele entspannt an, was sich zunehmend als individuelle Haltung manifestiert und den vokalen Leistungen in feiner Balance von Ausdruck und hohem Anspruch sehr gut bekommt. Ohne Qualitätshierarchie macht Oberlinger Scarlattis und Goldonis Komödie zu einem Fest, auch weil Mouret seine Figurenzeichnungen am musikalischen Material ausrichtet und demzufolge nicht in eine szenische Motorik gepresst werden muss. Die Pointen strahlen umso mehr, je leichter die Sänger agieren. Auch durch die genüsslich zelebrierten Instrumentalsoli entwickelt sich der feinsinnige Fluss von Gesang und Spiel.
Der Tenor Rupert Charlesworth singt als legitimer Thronfolger Celidoro seine Arien mit hintergründiger Emphase. Filippo Mineccia ist hier mit seinem faszinierend individuellen Timbre genau richtig und unterfüttert die auskomponierten Diktator-Allüren mit galantem Sentiment. Roberta Mameli gibt seine Seitensprünge in größtmöglicher Gelassenheit ertragende Gattin Lisaura mit apart dunklem Timbre und Höhenbrillanz. Die erst untereinander solidarische, dann sich beim Kampf um den Mann kräftig anschwärzenden Renigungs- und Hausmeisterin-Duo ist mit dem dunklen Mezzo von Benedetta Mazzucato als Cetronella und Maria Ladurners hellem Silberstrahl für Ruspolina wie Pfeffer und Salz. Dana Marbach als Dorina hätte einen weitaus größeren Part verdient. João Fernandes als Calimone und Niccolò Porceddas als kleiner Postmann Poponcino – letzterer mit ausnahmsweise sympathischem Fidel-Castro-Appeal – bieten einen im mitteleuropäischen Musiktheaterraum relativ seltenen Fach. Sie sind federleichte Bassbaritone mit nur ansatzweise dunklen Stimmen. Stark ist somit jede Besetzungsposition in diesem schönen Ensemble auf der Bühne und im Orchester. Zusammen aber sind sie an diesem Sommerabend unwiderstehlich.
- Besuchte Vorstellung: 16. Juni 2022 (davor am 12., 14., 15., Juni)