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Joana Mallwitz dirigiert das Konzerthausorchester Berlin. Foto: Martin Walz

Joana Mallwitz dirigiert das Konzerthausorchester Berlin. Foto: Martin Walz

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Erhellende Querverbindungen in Werk und Interpretation

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Das Musikfest Berlin 2023 zwischen Rachmaninow und Widmann
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In diesem Jahr wird der 150. Geburtstag zweier großer Komponisten, Sergej Rachmaninow und Max Reger, gefeiert. Winrich Hopp, der künstlerische Leiter des Musikfests Berlin, entschied sich für den vom Publikum geliebten, von Kritikern aber häufig verachteten Rachmaninow. Theodor W. Adorno fällte über ihn ein ähnlich vernichtendes Urteil wie über Jean Sibelius. Die bekannteste Komposition des Russen, sein cis-Moll-Prelude op. 3 Nr. 2, tat er als leere Sentimentalität ab. Mit gerade diesem Stück als Zugabe endete Vladimir Jurowski den Auftritt des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Er wählte eine Fassung für großes Orchester, die Sir Henry Wood 1913 für die Londoner Proms erstellt hatte. Diese exekutierte er mit so gewaltiger Lautstärke, dass man den Ausdruck von Verzweiflung zu spüren glaubte. Rachmaninow rückte damit in die Nähe von Schostakowitsch.

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Auf der Flucht vor der Oktoberrevolution hat der Komponist 1917 seine russische Heimat verlassen. Er ist nie wieder zurückgekehrt, obwohl er in Gedanken immer wieder dort war. In den USA lebte er als Exilrusse, erst kurz vor seinem Tod erhielt Rachmaninow die amerikanische Staatsbürgerschaft. Wie tief er in der russischen Kultur verwurzelt war, zeigte die „Ganznächtliche Vigil“ op. 37, ein Meisterwerk der A-cappella-Chorliteratur, das der Rundfunkchor Berlin unter Gijs Leenaars in der gut besuchten Gethsemanekirche klangvollendet sang. In einem weiten Spektrum von Einstimmigkeit bis zu elfstimmiger Mehrchörigkeit hat der Komponist hier Material aus weltlichen und kirchlichen Traditionen durch Eigenes ergänzt.

Ein Jahr nach der 1915 in Moskau uraufgeführten Vigil entstanden noch seine Sechs Romanzen op. 38 für Stimme und Klavier, welche die lyrische Sopranistin Nadezhda Pavlova zusammen mit Alexander Melnikov zur höchst wirkungsvollen Aufführung brachten. Hier erlebte man einen Rachmaninow, wie man ihn sonst nicht kennt. „Der Rattenfänger“ etwa wirkte wie ein groteskes Volkslied in der Mussorgsky-Nachfolge. Die Sängerin sprengte mit ihrem weiten dynamischen Ambitus vom glockenhaften Piano bis zum klang­starken Fortissimo eigentlich die Sphäre des Liedhaften, verwies damit aber auf den Opernkomponisten Rachmaninow.

Nach 1917 hat er kaum noch komponiert. Als er sich 1936 nach langer Pause im Opus 44 wieder einmal an eine Sinfonie, seine Dritte, wagte, bewegten ihn Todesgedanken. Erkennbar ist dies am Dies-irae-Motiv im Finale. Unter Vladimir Jurowski spielte das Rundfunk-Sinfonieorchester dieses Werk mit einer konzentrierten Präsenz, die staunen machte. Mit Rachmaninows letzter Komposition, den 1940 entstandenen, aus einfachen, kurzgliedrigen Motiven gebildeten Sinfonischen Tänzen op. 45 endete der von seinem neuen Chef Lahav Shani geleitete Auftritt des Israel Philharmonic Orchestra. Auch diese Interpretation glänzte durch Transparenz und rhythmische Präzision. Nach der wirbelnden Walzer-Raffinesse des zweiten Satzes mündete das Finale wiederum ins Dies-irae-Motiv ein, dem aber der straffe Rhythmus und eine Reminiszenz an das „Alleluja“ der „Ganznächtlichen Vigil“ neue Energie verlieh. Die gemeinsame Aufführung dieser Rachmaninow-Werke beim Musikfest hatte solche Querverbindungen hörbar gemacht. 

Jörg Widmann und andere

Erheblich jünger als Rachmaninow ist der als Klarinettist, Komponist und Dirigent ebenso vielseitig begabte Jörg Widmann, der zum 50. Geburtstag geehrt wurde. Als Henze- und Rihm-Schüler bekennt er sich zum stilistischen Pluralismus. Virtuosen Umgang mit Orchesterfarben offenbarte sein Liederzyklus „Das heiße Herz“, der eine riesige Besetzung durchweg transparent verwendete. Die ausgewählten Texte sprechen von zerstörten Illusionen wie etwa das Heine-Gedicht „Das Fräulein stand am Meere“, das Widmann als grotesken Walzer komponierte. Mit den Berliner Philharmonikern dirigierte er seine „Con brio“-Ouvertüre und das 2. Violinkonzert, ein von stummer Aktion über Geräusche bis zu tonalen Figuren reichendes Ideen-Kaleidoskop, das Carolin Widmann grandios interpretierte.

Glatter und konventioneller wirkte dagegen das Violinkonzert des Iren Donnacha Dennehy, das der fabelhafte Augustin Hadelich zur deutschen Erstaufführung brachte. In einem außerordentlich interessanten Programm der Berliner Philharmoniker leitete Kirill Petrenko neben epochalen Werken von Xenakis, Hartmann und Kurtág die Uraufführung der Komposition „Lég-szín-tér“ (Luftszene) von Márton Illés. Beginnend mit sehr leisen Luftgeräuschen und magischen Übergängen zwischen Akkordeon und Streichern steigerte sie allmählich die Phrasenlänge. Das Publikum verfolgte die anspruchsvolle Werkfolge mit gebannter Aufmerksamkeit.

Die in Berlin lebende Koreanerin Unsuk Chin ließ sich in ihrem Konzert „Šu“ (Atem) für Sheng und Orchester vom Klang dieser traditionellen chinesischen Mundorgel inspirieren. Das abwechslungsreiche Spiel des Sheng-Virtuosen Wu Wei begleitete das Orchester meist diskret mit Klangflächen, gelegentlich mit scharfen Akzenten. Die in Israel lebende Betty Olivero, eine Schülerin von Luciano Berio, deutete in „Many Waters“ für Sopran, Orchester und Elektronik das Wasser als Symbol des Lebens. Hila Baggio trug hebräische Gebete wie eine Psalmenlesung vor, wurde aber auch perkussiv und steigerte sich zum Schrei, zum Hilferuf der Welt.  An der Weiträumigkeit Anton Bruckners orientierte sich die 1962 in Kiew geborene Victoria Vita Polevá in ihrer Sinfonie Nr. 3, einer Trauermusik mit einem langen, erst kurz vor Schluss abbrechenden Orgelpunkt.

Parade der Orchester und Dirigenten

Das Musikfest ist nicht zuletzt ein Festival der Orchester, das den Vergleich der lokalen Szene mit Gästen ermöglicht. Neben dem Deutschen Sinfonie-Orchester unter Robin Ticciati, dem Rundfunk-Sinfonieorchester unter Jurowski, der Staatskapelle unter Rafael Payare und den Philharmonikern unter Widmann und Petrenko erregte in diesem Jahr das Konzerthausorchester besonderes Interesse. Denn als erster großer Berliner Klangkörper hatte es mit Joana Mallwitz eine Frau zur Chefin gewählt. Wohl auch durch die üppige Plakatwerbung angelockt, füllte ein begeistertes Publikum die Philharmonie bis auf den letzten Platz. Bei Beethovens 7. Sinfonie, dieser „Sinfonie des Tanzes“, vollführte Mallwitz selbst einen Tanz und agierte mit ihren langen nackten Armen oft raumgreifender als die anderen Dirigenten des Musikfests. Das großartige Concertgebouworkest glänzte unter Iván Fischer bei Mahlers 7. Symphonie. Schon am nächsten Tag war Mahlers Neunte mit dem London Symphony Orchestra zu erleben, geleitet von Simon Rattle, der vor seinem Amtsantritt in München noch einmal in Berlin gastierte. Während der Kopfsatz als einziger Bewußtseinsstrom, schwankend zwischen Todesangst und Trost, faszinierte, litten die übrigen Sätze unter übertriebener Dynamik.

Enttäuschend wirkte das Gastspiel des Boston Symphony Orchestra unter Andris Nelsons, umso erfreulicher das des Bayerischen Staatsorchesters unter Jurowski. Ein Höhepunkt war die halbszenische Aufführung der Berlioz-Oper „Les Troyens“ mit dem Monteverdi Choir, dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique und so herausragenden Gesangssolisten wie Alice Coote und Michael Spyres. Nach der Absage von John Eliot Gardiner war dessen Assistent Dinis Sousa eingesprungen, der sich aufs Beste bewährte. Bedrückend wirkte nur das Schlussfazit dieses Kriegsdramas: Hass den Feinden!

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Mirga Gražinyte-Tyla. Foto: Andreas Hechenberger

Mirga Gražinyte-Tyla. Foto: Andreas Hechenberger

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Die Münchner Philharmoniker spielten Mahlers 2. Sinfonie. Dieses Orchester, seit dem Weggang von Gergiev 2022 ohne Chef, wurde geleitet von der Litauerin Mirga Gražinytė-Tyla. Diese Dirigentin vertraut offenbar mehr der inneren als der äußeren Energie und verzichtete deshalb auf die ausladenden Bewegungen der gleichaltrigen Joana Mallwitz. Durch seine sparsame und dennoch intensive Zeichengebung hatte Lahav Shani schon beim Israel Philharmonic Orchestra verblüfft. Er wird 2026 die Leitung der Münchner Philharmoniker übernehmen. 

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