Gibt es den gerechten Krieg? – wenn sich beispielsweise das alttestamentarische Israel gegen seine Unterdrücker wehrt – fragt Händel in seinem Oratorium „Judas Maccabäus“. Hätte der gerechte Krieg gegen den Nationalsozialismus nicht die vernichtende Bombardierung von Auschwitz mit einschließen müssen? – fragt der aus Tel Aviv stammende, in den USA ausgebildete und derzeit in Berlin arbeitende 44jährige Lior Navok in seinem Oratorium „And the Trains kept coming…“.
In der Stadt der Reichsparteitage und der Kriegsverbrecherprozesse stellte sich die Oper Nürnberg nun mit einem mutigen Projekt den obigen Fragen, den beiden Werken und der grundsätzlichen Problematik. Das Team um Regisseur Stefan Otteni und Dramaturg Kai Weßler erstellte dabei eine szenische Collage aus einleitenden Händel-Nummern, unterbrochen von Sprechtexten, dann Navoks komplettem Werk, das Texte, Solo- und Chornummern mischt, sowie nach der Pause eine Abfolge von aktuellen Sprechtexten und weiteren Nummern aus Händels „Judas Maccabäus“. Nürnbergs 1.Kapellmeister Peter Tilling trug als Dirigent diese Werkcollage mit, an der wohl bis zuletzt gearbeitet und umgestellt wurde, denn das Programmheft bietet zwar viele der verwendeten Materialien, doch nicht in der Reihenfolge der jetzt uraufgeführten Bühnenfassung.
Ottenis Inszenierung beginnt mit einer Probe von Händels „Judas Maccabäus“ im Jahr 1944: die Nazis samt anwesendem NS-Kulturkammer-Überwacher wollten ja gemäß der Vorgabe von Chefideologe Alfred Rosenberg aus Händel eine Art nordischen Wikinger machen, tauschten einfach „Judäa“ in „befreites Vaterland“ und machten sich den „gerechten Krieg“ zu eigen. Die Bühne zeigt einen nach hinten ansteigenden, noch unbeschädigten Konzertsaal, in dessen Mitte ein dunkel metallischer Gittersteg nach vorne läuft, das Orchester teilt – und unaufdringlich an die berüchtigte „KZ-Rampe“ erinnert. Chor, Sprecher und Gesangssolisten bespielen diesen Raum: teils kriegsgezeichnet, Fliegeralarm und Verdunkelung „durchhaltend“, teils von Händels Musik „getröstet“. Dann bricht der Raum mit einem Knalleffekt hinten auf und von oben regnet es Akten und Dokumente herab: „die Deutschen“ – Chor, Sänger und Schauspieler - erfahren, was sie alle „nicht gewusst“ haben. Navoks in 37 Nummern sehr zugänglich komponiertes Oratorium folgt: Flöten- und Soloviolin-Klage, Melodie-Phrasen, schrille Brüche, Geräusche, wüste Tutti-Ballungen - keine zeitgenössisch verstiegenen „Hirn-Konstrukte“, sondern dramatisch zupackende Theatermusik, die lauter Quellentexte aus den Jahren 1939 bis 1945 mal als Sprechgesang, als Melodram, wuchtige Chornummer oder Arioso gestaltet.
Szenisch hat das Bühnenteam die nach der Pause folgenden Händel-Oratorienteile vor einer in die Konzertsaalwände eingeblendete Fotogalerie jüdischer Mitbürger Nürnbergs samt Kränzen und „Ewiger Flamme“ singen lassen, aber durch kleine Spielszenen mit etwa 20 weiteren Texten aufgebrochen und aktualisiert: NS-Stellungnahmen, Shoah-Zug-Fahrpläne, Opferberichte, diplomatische Stellungnahmen, Obamas-Friedensnobelpreisrede, Hilfsappelle aus Syrien und am Ende einen US-General über den kommenden „humanen Drohnen-Krieg“. Das stimmt alles und zielt in die richtige Richtung, nur grenzt es an Überforderung durch den zu weit gespannten Horizont: Händel hat seinen „Maccabäus“ einem höchst fragwürdigen General, dem „Schlächter von Culloden“, gewidmet; die Shoah übersteigt alle andere Kriegsproblematik. Doch die zwei Kinder-Solisten, die fünf Gesangssolisten und vier Schauspieler, der bis in Einzelreaktionen darstellerisch differenziert mitagierende Nürnberger Opernchor (Einstudierung: Tarmo Vaask) fesselten drei Stunden lang: Bravi! Im Dunkel nach dem letzten Ton saß das Premierenpublikum lange stumm, um dann beeindruckt langen Beifall zu spenden.