Ein „Septem Verba“-Oratorium geistert seit mehr als hundert Jahren durch die Pergolesi-Forschung, ohne dass die Frage seiner Einstufung als echtes Werk des Neapolitaners wirklich geprüft oder gar geklärt werden konnte. Nun – im 300. Geburtsjahr des Giovanni Battista Pergolesi – scheint endlich Licht ins Dunkel zu kommen.
Der Dortmunder Musikwissenschaftler, Komponist und Chorleiter Reinhard Fehling hat eine Entdeckung gemacht: Eine bisher nicht ausgewertete (weil als anonym geltende) Stimmenabschrift des Werkes mit dem Titel „7 Verba – pro Hebdomada sancta“, die auf einen Zeitpunkt um 1760 datierbar ist und im Benediktinerstift Kremsmünster (Oberösterreich) in 67 hochformatigen Doppelblättern vorliegt, konnte er in Partitur rekonstruieren und zweifelsfrei Manuskripten desselben Werkes zuordnen, die Pergolesi als Komponisten nennen. Soeben wurde das Werk – in dieser Form wohl zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahrhunderten – in Dortmund im Rahmen der 13. Internationalen Musikwoche „Campus Cantat“ der Technischen Universität mit großem Erfolg aufgeführt.
Ein erster musikwissenschaftlicher Hinweis auf das in Rede stehende Oratorium findet sich in Robert Eitners „Quellenlexikon“ von 1902. Dort nennt er unter Pergolesis „Geistlichen Werken“ ein „Verbum Christi da cruce“. Er bezieht sich dabei, wie auch später der Pergolesi-Biograf Giuseppe Radiciotti (1910), auf ein fragmentarisches, nur den dritten und vierten Teil des Ganzen wiedergebendes Partitur-Manuskript, das seit 1882 in der damaligen „Bibliotheca Regia Monacensis“ (heute Bayerische Staatsbibliothek München) katalogisiert war.
Nachdem in den Jahren 1926 bis 1928 im Zuge einer Inventarisierung im bayrischen Kloster Metten eine Stimmenabschrift desselben, aber kompletten Werkes mit dem (sprachlich leicht fehlerhaften) Titel: „Septem Verba À Christo In Cruce Morituriente Prolata Del Sig: Pergolese“ aufgetaucht war, würdigte Bertha Antonia Wallner dieses 1936 in einem Aufsatz: „Ein Giovanni Battista Pergolesi zugeschriebenes Sieben-Worte-Oratorium“. Aus Wasserzeichen und Beschriftung war ihr eine Datierung auf 1760 möglich und sie kam – ohne es in Partitur zusammenzustellen – aufgrund von detaillierten stilkritischen Beweisen zu der Feststellung, dass es sich um ein Frühwerk Pergolesis handeln müsse. Ihre Darstellung blieb allerdings wissenschaftlich und editorisch folgenlos. Erst der Dirigent Hermann Scherchen näherte sich – diesmal von der musikpraktischen Seite – wieder dem Werk. Auf der Basis einer Stimmenabschrift: „Septem Verba a Christo in Cruce moriente prolata, Oratorio del Sigr. Pergolese“ aus den Beständen der „Allgemeinen Musikgesellschaft“ in Zürich, die 1917 als Depositum in die dortige Zentralbibliothek gelangt war, erstellte er eine handschriftliche Partitur und veröffentlichte sie, nebst einem Klavierauszug 1952 in seinem Verlag „Ars viva“.
Diese Edition, besonders der mit einigen stilfremden pianistischen Zutaten versehene Klavierauszug, diente im Folgenden der Pergolesi-Forschung als alleinige Grundlage für die Einstufung des Werkes als „unecht“. Zuletzt (1980) befand auf dieser Grundlage der ansonsten gründliche Helmut Hucke, es gehöre „in einen von Pergolesi deutlich verschiedenen stilistischen Umkreis“.
Seitdem hatte sich nichts in dieser Angelegenheit getan und erst durch die Recherchen Fehlings sind viele Zusammenhänge und Hintergründe klarer geworden. In einer ausführlichen wissenschaftlichen Arbeit vergleicht er derzeit erstmalig die bisher unverbunden nebeneinander existierenden Manuskripte und konnte bisher an ihnen und an der von ihm auf ihrer Grundlage erstellten Partitur Folgendes nachweisen:
Alle vier Manuskripte (Kremsmünster, München, Metten und Zürich) bilden im Wesentlichen die gleiche Werkgestalt ab und sind folglich demselben Urheber zuzuschreiben. Ein 1770 in Zürich zusammen mit einer deutschen Nachdichtung für eine Aufführung gedrucktes Libretto des Werkes, das auch Pergolesi als Komponisten anführt, lässt, wie auch Eintragungen in den Musik-Manuskripten, auf seine rege Rezeption zu jener Zeit, auch über den katholisch-klösterlichen Raum hinaus, schließen. Über das Kremsmünster-Manuskript als dem genauesten und ursprünglichsten lässt sich eine eindeutige Spur nach Neapel und zu Pergolesi verfolgen, da Franz Sparry, der um 1760 dort Stiftsmusiker war, 1740-42 etwa in Neapel Komposition (u.a. bei Pergolesis Lehrer Leonardo Leo) studiert und von dieser Reise nachweislich auch Abschriften von Werken der beiden in die Heimat mitgebracht hat.
Durch die Entdeckung und die kompositorische Zuordnung dieses Manuskriptes werden die bisherigen Einstufungen der „Septem Verba“ als „fragwürdig“ oder „unecht“ mit einer differenzierten Faktenlage konfrontiert und in entscheidenden Punkten widerlegt. Ein stilkritischer Vergleich – wie ihn Wallner 1936 begonnen hatte – konnte nunmehr endlich in Ansehung der kompletten Partitur erfolgen und weitere Belege erbringen, die Claudio Toscani von der Fondazione Pergolesi-Spontini für den in naher Zukunft geplanten „Thematischen Katalog“ der Werke Pergolesis 2009 auf eine Anfrage Fehlings zu Recht angemahnt hatte: „We certainly need a serious, accurate investigation of the sources and in the future we maybe can tell something more sure about its authenticity”.
Diese „ernste und akkurate Erforschung der Quellen, die Sichereres über seine Authentizität aussagen“ hat Fehling nun unternommen und wird sie 2011 als Dissertation der Fach- und Musikwelt vorlegen. In Vorbereitung ist gleichfalls die Herausgabe des musikalischen Materials im Verlag Breitkopf & Härtel.
Einstweilen hat die Wieder-Uraufführung dem staunenden Publikum ein – mehr als einstündiges – Oratorium vor Ohren geführt, das eine einzigartige, theologisch tiefgründige und dichterisch bemerkenswerte Textvorlage im dialogischen Wechsel zwischen Christus- und Anima-Passagen erstaunlich vielfältig musikalisch ausgestaltet. Jedes der „Sieben Worte“ ist – neben Continuo-Gruppe und Streichern (2 Violinen und 2 Violen) - auf wechselnde obligate Instrumente (Harfe, Trompete, Horn, Oboe, Viola d’amore, Violoncello) gestellt, die damit der – ursprünglich wohl für Fastenmeditationen gedachten – Komposition eine ungewöhnliche Farbigkeit verleihen. Die verschiedenartigen sprachnahen und kantablen Intonationen, die den versierten Opernkomponisten verratenden Rezitative, sowie etliche syntaktische Besonderheiten und melodische Formungen der „Septem-Verba“-Arien lassen immer wieder Querverbindungen zum wohl berühmtesten Werk Pergolesis, dem „Stabat Mater“, aufscheinen.
Zu erwarten ist, dass das Werk seinen Weg macht. Ob in der Gestalt mit Chor, den Fehling – ähnlich wie Salieri seinerzeit beim „Stabat Mater“ – für die Dortmunder Fassung behutsam und stilgerecht, jedoch höchst wirkungsvoll in die Anima-Passagen hineinkomponiert hat, oder in der Urform, wie es demnächst gedruckt erscheint, mag die Rezeption entscheiden.