Die Geschichte ist wahr und erschütternd: 1915 wurde der zu Unrecht der Vergewaltigung und des Mordes an einer 13-Jährigen schuldig gesprochene Jude Leo Frank in Atlanta, Georgia, gelyncht. Zuvor war die in einem fragwürdigen Prozess gegen ihn verhängte Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt worden. Kann das Stoff für ein Musical sein?
Eher nicht, glaubte wohl Stephen Sondheim und lehnte einen entsprechenden Vorschlag des Regisseurs Harold Prince ab. Jason Robert Brown (Musik und Songtexte) stellte sich der Aufgabe; sein 1998 am Broadway uraufgeführtes Stück „Parade“ – von der Kritik überwiegend positiv aufgenommen – war kommerziell zunächst ein Misserfolg, wurde aber in weiteren Produktionen einige Male nachgespielt und erlebt seit Februar dieses Jahres sein Broadway-Revival.
In diese Neubewertung reiht sich nun die Erstaufführung der deutschsprachigen Fassung von Wolfgang Adenberg am Theater Regensburg ein, und – dies vorweg – viel besser kann man das an einem Stadttheater wohl nicht machen. Vor dem Hintergrund der stets präsenten Bleistiftfabrik (Leo Franks Arbeitsplatz als Direktor und Ort des Verbrechens) finden mittels Dreh- und Hebebühne reibungslose Szenenwechsel statt. Was hier von Regisseur Simon Eichenberger bestens koordiniert in Sachen Bühnenraffinesse (Sam Madwar), Kostümvielfalt (Aleš Valášek) und Lichtstimmung (Martin Stevens) aufgefahren wird, wäre eines spezialisierten Musicaltheaters jederzeit würdig.
Die Besetzung, darunter viele feste Ensemblemitglieder und People of colour, ist bis in kleinere Rollen des riesigen Casts hervorragend: Paul Kmetsch (Junger Soldat / Britt Craig), Michael Daub (Alter Soldat / Tom Watson / Wächter) und Felix Rabas (Frankie Epps / Wächter) beweisen in ihren Mehrfachaufgaben beeindruckende Wandlungsfähigkeit, Benedikt Eder ist ein durchtriebener Staatsanwalt Dorsey, William Baugh ein stimmintensiver, als wahrer Täter falsch aussagender Jim Conley, Kathrin Berg eine berührende Opfermutter. Darstellerisch und stimmlich enorme Präsenz zeigt nicht nur der Opernchor, auch der Cantemus Chor der Musikschule überzeugt als Kollektiv ebenso wie solistisch, allen voran Sarah Scherwitz als das Mordopfer Mary Phagan.
Vor allem aber sind die Hauptrollen bei Alejandro Nicolás Firlei Fernández als Leo Frank und Fabiana Locke als dessen Frau Lucille in fabelhaft guten Händen. Die Geschichte der Annäherung eines – nach dem Umzug von Brooklyn in ein gelinde gesagt kulturell andersartiges Südstaatenumfeld – mit sich kämpfenden Paares ist der Teil des Stückes, der musikalisch am besten funktioniert. Dramaturgisch geschickt verzahnen Jason Robert Brown und sein Librettist Alfred Uhry dies auch mit dem Krimiplot und dem Justizskandal. Exemplarisch dafür ist die Prozess-Szene, in der die Vorverurteilung durch eine antisemitische Öffentlichkeit den Rahmen für die als Rückblenden angelegten Falschaussagen der Zeuginnen und Zeugen bildet.
Die handwerkliche Musical-Geschmeidigkeit, mit der sich das alles abspielt, die gekonnte Stilvielfalt mit Folk-, Swing- und Rhythm & Blues-Anklängen und die farbige Instrumentation können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Brown allzu oft auf Broadway-Konventionen verlässt. Bis auf das Finale des ersten Aktes, einer dissonanten Überlagerung diverser Schichten à la Charles Ives, vermisst man in der Partitur jene schmerzhaften Widerhaken, die dem Stoff adäquat wären. Statt gezielte Schläge in die Magengrube zu verteilen, kippt Brown immer wieder beschwichtigende Streicher-Hörner-Soße über die bittere Grundsubstanz. Besonders mutlos ist die Lynchszene, für die Brown nach dem wahrhaft ergreifenden Moment, da Leo Frank mit der Schlinge um den Hals das einsame Gebet „Sh’ma Yisrael“ anstimmt, nicht mehr einfällt, als zu den Trommeln der rahmen- und titelgebenden Konföderierten-Parade einen Allerweltsakkord zu wiederholen.
Rhythmisch straff und mit der nötigen Süffigkeit tönte das alles bei der umjubelten Premiere aus dem Graben, der scheidende Chordirektor Alistair Lilley hätte das Philharmonische Orchester aber an vielen Stellen dynamisch zügeln müssen. Dann hätte man zum Beispiel den Text der wichtigen Szene zu Beginn des zweiten Teils verstanden, in der sich zwei Bedienstete fragen, ob um einen schwarzen Angeklagten auch so viel Aufhebens gemacht worden wäre.
Vor dem Theater am Bismarckplatz waren am Premierenabend Streifenwagen postiert. Wie die Mittelbayerische Zeitung berichtet, hatte ein Anrufer Störungen angekündigt und dem Theater vorgeworfen, einem „jüdischen Kinderschänder“ eine Bühne zu bieten. Dies und die Tatsache, dass auch die Wiederaufnahme am Broadway von Nazi-Protesten gestört wurde, zeigt, wie notwendig die Erinnerung an diesen Fall ist, der zur Gründung der Anti-Defamation League führte. Ob die künstlerische Form, die Jason Robert Brown und Alfred Uhry dafür gefunden haben, eine angemessene ist, darüber kann man sich nun anhand der beinahe exemplarischen Regensburger Produktion seine eigene Meinung bilden.