Geheimnisvoll flüsternd lockt eine weibliche Stimme. Mit rotem Knautschlack-Jackett und silbrig glitzernden Sneakers spielt eine Keyboarderin im Innsbrucker Treibhaus und wirft laszive Blicke ins Publikum, die auf einem Videoscreen noch verdeutlicht werden. Auch mit Lustgestöhne spart Brigitta Muntendorf in der „Aria“ ihrer Performance „Public Privacy“ nicht. Wenngleich alles eigentlich nur Fake ist, denn die Pianistin Małgorzata Walentynowycz markiert zwar erotische Wiegebewegungen, aber die lustvollen Stimmen kommen meist von den Samples einer elektronischen Tonspur. Dicker kommt es dann bei einem bereits 1919 im Geist des Dadaismus entstandenen Stück Erwin Schulhoffs, dessen „Sonata erotica“ von Frauke Aulbert die Gestaltung eines Note für Note und nach strengen rhythmischen Vorgaben auskomponierten Orgasmus abverlangt. Was die Hamburger Vokalistin und Performerin mit einer ekstatischen Steigerungskurve mitsamt einem Schuss Humor bravourös löste.
Hat Festival-Kurator Matthias Osterwold deshalb so sorgfältig hinter dem diesjährigen Allerweltsmotto „Noch Fragen? Any Questions“ versteckt, dass der wahre Schwerpunkt der „Klangspuren 2017“ den Frauen gewidmet war? Denn mehr als die Hälfte der aufgeführten Werke dieses Jahrgangs stammte von Komponistinnen und nicht minder viele Interpretinnen waren zu dem wie alljährlich im September stattfindenden Tiroler Festival eingeladen. Aber vielleicht sollte das Deckmäntelchen kaschieren, dass er auch einen Erotik-Abend unter dem Titel „Série rose“ programmierte? Mitnichten, kontert Osterwold sofort im Gespräch, denn der Vorschlag für dieses Konzert und dessen sechs um erotische Themen kreisende Stücke kam von der polnischen Kuratorin und Musikkritikerin Monika Pasiecznik, also von Seiten der Frauen selbst. Und überhaupt wurde weit heißer gekocht als gegessen: Denn die Erotik-Lektionen der „Klangspuren“ erteilten weniger die Klänge als vielmehr erotische Texte, Videos oder Performances, die von Musik bloß farbig begleitet wurden.
Wie etwa beim titelgebenden Stück des Abends, „Série rose“ von Pierre Jodlowski, der eine – nur akustisch wiedergegebene – Liebesszene aus David Lynchs „Lost Highway“ mit live gespielten Klavierklängen und elektronischen Drum-Beats garnierte. Das Erotische vermittelt sich jedoch hauptsächlich über die Stimmen der Tonspur des Films.
Eindrücklicher gelangen andere Konzerte dieser Off-Schiene der „Klangspuren“, die Kurator Osterwold immer wieder über den Rand des streng Komponierten hinausblicken lässt. Beim Projekt „Metallon“ experimentierte das Elektronik-Trio „Dark Matter“ improvisatorisch mit den Klängen der Glocken des Innsbrucker Doms. Ein anderes, überwiegend improvisiertes Konzert spielten die in Berlin lebenden „Femmes savantes“, die Ute Wassermanns girrende Vokalexperimente diesmal mit den sanften Songs von Margareth Kammerer ergänzten, um eine poetische Reverenz an die kanadische Dichterin Anne Carson zu formulieren.
Prominentester Gast der Off-Schiene war die US-amerikanische Performancekünstlerin Laurie Anderson, die den „Klangspuren“ beim Finale in Schwaz einen proppenvollen Saal bescherte. Das bereits 1984 erstmals gespielte Programm, „The Language of the Future“, tönte ungleich melancholischer als vor dreißig Jahren, geprägt von der Last des Trump-Amerika, des Putin-Russland und der drohenden Kriegsgefahr, aber natürlich auch vom Tod ihres Ehemanns Lou Reed, der kurz über Video eine berührende Botschaft aus der Ferne sandte. Das alles vermittelt Anderson mit ihrem unübertroffenen Erzählton, unprätentiös, unsentimental und punktgenau.
Mehr als die Hälfte des Programms aber war den komponierenden Frauen gewidmet, die in den letzten Jahren mit unüberhörbarer Kraft angetreten sind, eine einstige Männerdomäne zu erobern. Von der Altmeisterin Sofia Gubaidulina und anderen bereits etablierten Künstlerinnen wie Olga Neuwirth (mit ihrem 3. Streichquartett), Rebecca Saunders (mit „rubricare“ für barockes Streichorchester und Orgel) oder Jennifer Walshe, die mit „Everything Is Important“ eine ihrer widerborstigen Performances gestaltete, reichte die Palette bis zu Newcomern wie Manuela Kerer, Brigitta Muntendorf oder Sarah Nemtsov.
Letztere war mit dem Ensemblestück „communication – lost – found“ (2006) und dem Orchesterstück „scattered ways“ (2015) vertreten. Beide Werke beginnen mit sehr leisen Klängen, erzeugt von Atemgeräuschen der Bläser im Ensemblestück, im Orchesterwerk hingegen von hellen Pizzicati der Streicher und von Perkussionsinstrumenten. „scattered ways“, das von einem Gedicht Emily Dickinsons inspiriert wurde, integriert auch ein Toy Piano, das Dirigent Jonathan Stockhammer am Pult des Tiroler Symphonieorchesters Innsbruck spielte, um Verwirrung zu stiften: Mal treffen geordnete, mal chaotische Strukturen aufeinander, so dass die Musik unvorhersehbar hin und her stiebt wie die verglühenden Funken in Dickinsons Gedicht.
Beeindrucken konnte im selben Konzert auch Sofia Gubaidulinas „Glorious Percussion“ für Schlagzeugensemble und Orchester (2008). In diesem rund 35-minütigen Werk experimentiert die 86-jährige russisch-tartarische Komponistin mit Kombinationstönen und macht sich den Umstand zunutze, dass beim Intonieren von Intervallen – in ihrem Orchesterwerk sind es vornehmlich Sekunden und Terzen –, nicht nur die beiden Primärtöne, sondern auch durch Verzerrungen hervorgerufene Summations- und Differenztöne entstehen, die vom menschlichen Ohr als Pulsationen wahrgenommen werden. Indem sie die exakt nach Tabellen errechneten Summations- und Differenztöne des Orchestersatzes, die ansonsten nur unmerklich zu hören wären, vom solistischen Schlagzeugensemble (das bestens vorbereitete Studio Percussion Graz) spielen lässt, erzeugt Gubaidulina aus stehenden Akkorden einen energetischen Fluss.
Als „Composer in residence“ der „Klangspuren“ arbeitete Gubaidulina auch in zahlreichen Proben mit den jungen Musiker/-innen der alljährlich in Tirol stationierten „Ensemble Modern Academy“. Deren Interpretationen ihres Streichquartetts Nr. 2 (1987), der Fünf Etüden für Harfe, Kontrabass und Schlagwerk (1965) und der düster-kargen Hommage „So sei es – in memoriam Viktor Suslin“ (2013) konnten sich wahrlich hören lassen. Gefrierender als dieses Stück war sonst nur Bernhard Langs Schubert-Hommage „The Cold trip“ (2014/15), deren zweiten Teil die britische Sängerin Juliet Fraser und der Pianist Mark Knoop ungemein feinfühlig interpretierten. Eine dunkle Vorahnung auf das Fremdsein, das vielen Österreichern nach dem Rechtsrutsch erneut im eigenen Land bevorsteht.