Unter neuer Intendanz eröffneten dieses Wochenende die Musiktheater des Meininger Staatstheaters und der Bühnen Halle jeweils mit einer Oper von den britischen Inseln. Mit dieser Leistung wollen die Leitungen beider Häuser eine Offensive der Phantasie und der Überwältigungskraft physischen Theaters starten.
An beiden Häusern griffen die Bühnenbildner architektonische und dekorative Elemente der Zuschauerraum-Ausstattung auf, um auch visuell die Relevanz der Bühne für das Leben – nach Corona erst recht – zu beweisen. In Halle inszenierte der neue Intendant William Sutcliffe selbst und definierte Benjamin Brittens verzaubert-verzaubernde Shakespeare-Vertonung „Ein Sommernachtstraum“ als Volksoper für das 21. Jahrhundert, in der es vor allem um das Eine geht. Der flache Beginn erwies sich als spannender Start in den Tiefenrausch menschlicher, vor allem männlicher Begierden. Eine deftige und auch für die nächsten Produktionen vielversprechende Ensemble-Leistung.
„Die ganze Besetzung, männlich und weiblich, klang sexlos und kastriert. Aber Briten und viele Engländer lieben das ja“, zitiert Chefdramaturg Boris Kehrmann Richard Wagners Enkelin Friedelind, welche sich so über die erste Londoner Produktion des „Sommernachtstraum“ nach der Uraufführung 1960 beim Aldeburgh-Festival erinnerte. Beides widerlegt die Hallesche Premiere musikalisch und szenisch mit starken Argumenten. Ohne viel Zauber-Anstrengung entfacht Elfenkönig Oberon die Triebhaftigkeiten der Figuren noch heftiger. Diese sind in Walter Sutcliffes „Brunft-Nachttraum“ eine durchweg demokratische Angelegenheit von den Upper Class über die recht feschen Handwerker des postindustriellen Zeitalters bis zu beiden Liebespaaren. Deren Balzpalaver kommt bei Sutcliffe in hochlodernde Stichflammen-Nähe zu RTL, inklusive Handgreiflichkeiten zwischen Gewalt und Beischlafgymnastik. Dorota Karolczak steckt das erotische Quartett in fleischfarbene Stretchtrikots, auf welche die lustspendenden Organe gemalt waren. Und Jon Bausor zieht die Ornamente der Decke des Zuschauer- in den Spielraum. Die Waben finden sich sogar auch als Signet-Ornamente auf den Shirts des Einlassteams: Die ganze Welt ist Bühne, wenn schon im Foyer Statistenpaare aneinander herumfummeln. In der Oper Halle knistert eine ganz eigene erotische Welt, in der es vor allem um Gier geht – ganz ohne Missbrauch-Warnungen.
Volksoper für das 21. Jahrhundert
Bei den 14 Gesangspartien des Werks kann man gut (fast) ein gesamtes Musiktheater-Ensemble unterbringen. Einige der Sänger*innen kennt man in Halle schon. Etwa die koloraturensichere und bei größter Geilheit immer noch liebenswerte Elfenkönigin Titania von Vanessa Waldhart und den hier zum feistem Monster mit bodenlangem Gemächt statt zum Esel werdenden Gerd Vogel als Zettel. Die Liebespaare mit Anlauf-, dann mit Zuordnungsschwierigkeiten sind ein hippes, elegisches und hysterisches Quartett: Andreas Beinhauer (Demetrius) will offenbar von den lyrischen in eher dramatischere Bariton-Gefilde, Linda van Coppenhagen modelliert die sonst so jammerige Helena als selbstbewusste und kräftig fordernde Liebende. Yulia Sokolik macht das Beste aus ihrer vom Komponisten nicht sonderlich gut behandelten Partie der Hermia, Chulhyun Kim gibt Lysander mit allen Vorzügen eines sehr gut ausgebildeten lyrischen Tenors. Michael Zehe ist ein beeindruckenden Koordinator der Laienspielgruppe, in der Andrii Chakov, Robert Sellier, Matthias Schulze und Kristian Giesecke leider nicht so viele Profilierungsmöglichkeiten haben. Der die Sinnkrisen ihres Mannes Theseus mit souveräner Gelassenheit beobachtenden Hippolyta von Gabriella Guilfoil hätte man gern länger zugehört. Als charakterlich wie stimmlich weicher Oberon agiert Leandro Marziotte gegen die herkömmliche Besetzung mit Brutalo-Countertenor. Im schwarzen Lackanzug geht Marziotte wie ein gefallener Engel durch das Stück und schafft den idealen Konterpart zum von Sutcliffe als zentrale Partie aufgewerteten Theseus. Obwohl Ki-Hyun Park erst im dritten Akt singen kann, was bei dessen bemerkenswert schönem Bass fast zu bedauern ist, steht er oft im Mittelpunkt. Theseus beobachtet das Zerwürfnis von Oberon und Titania und spürt Triebstau-Schmerzen am eigenen Leib. In das Rüpelspiel mit hier fast umgangener Travestie mischt sich Theseus und erlebt da – indem er als personifizierte Wand nach Kräften berührt, befingert, betastet wird – einen Initiationsritus der ungewöhnlichen, weil nicht zu entschlüsselnden Art. Die Untertitel nennen alle musikalischen und in irrwitzige Situationskomödiantik auf drei Ebenen versetzten Quellen Brittens für sein Rüpelspiel: Donizetti, Lutoslawski, Schönberg. Leider kommen Pucks poetische Wortkapriolen vom Band und der Tänzer Sergiy Mishchurenko spielt ihn virtuos, verpackt am ganzen Körper in olivfarbenes Plastik. Diese Persönlichkeitsspaltung, welche von Britten sagenhaft in Tönen ergänzte Ambivalenz Shakespeares leider etwas beschneidet, ist das einzige Handicap dieser Start-Premiere neben den von Bartholomew Berzonsky und Peter Schedding zwar fein vorbereiteten, aber verstärkten Elfen-, Kinder- und ‚Jungfrauen‘-Chören.
Das geschah vollkommen widersinnig zu Brittens Musik, die so intensiv, raunend und rätselnd dem Eros huldigt und trotzdem alle der sexuellen Gier geopferten Menschlichkeiten beklagt. In der angelsächsischen Tradition gibt es tatsächlich eine spröd-asketische Linie der Britten-Interpretation, die Michael Wendeberg mit der sich bei dem „Orpheus Britannicus“ hörbar wohlfühlenden Staatskapelle Halle abstreitet. Das kann üppig und mit geheimnisvoller Filigranität klingen oder nicht, mysteriös und sinnlich, lockend oder vegetativ auftrumpfend. Selbst wenn der elfische Zauberwald bei Athen hier nicht so tiefe Klangwirkungen erfährt, dass man Brittens akustisches Tauglitzern auf Spinnweben hört, wurde es ein faszinierender Opernabend, bei dem Musik die Szene intensivierte und – wie Shakespeare fordert – „der Seele Nahrung ist“. Im Publikum saßen auffallend viel junge Zuschauer um die zehn Jahre. Jubel und lauter Applaus.