Der Zugang zum Wiesbadener Staatstheater war erst einmal versperrt, die Säulenhalle von einem Menschenknäuel besetzt und verstopft. Nun gut, auch mit spontanen Kundgebungen und Manifestationen an unerwarteten Orten muss an einem 1. Mai gerechnet werden. Doch ausgerechnet hier, in der Flaniermeile der Spielbankbesucher und anderer Pensionisten?
Diese Personengruppen bilden ja nicht unbedingt den Kern der werktätigen Bevölkerung, stellen freilich auch kein bevorzugtes Ziel der Demonstrationen gegen die ungleiche Verteilung der Güter dieser Erde dar. Die Ansammlung und die Ansprachen galten dann, ebenso wie die kunstvoll rohe Darbietung eines russischen Männergesangs-Ensembles, nicht der Zukunft der Arbeit im allgemeineren, sondern der Vergangenheit einer besonderen Tätigkeit: der des Theaterdirektors Manfred Beilharz. Der Förderverein sowie der Generalintendant feierten sich und die 370 Produktionen, die der schwäbische Theatertausendsasa auf den Weg gebracht hat in den zwölf Jahren, in denen er Chef des stattlichen staatlichen Theaterkomplexes war. Das repräsentative Gehäuse stammt aus dem Jahr 1902.
Zum großen Deputat der 31 Dutzend Premieren gehörten auch die der Maifestspiele, die seit über hundert Jahren als Frühjahrs-Sonderaktion des Staatstheaters in der hessischen Landeshauptstadt angeboten werden. Nach gründlich getaner Arbeit und seiner letzten Wiesbadener Spielzeit will sich der inzwischen 75jährige Theater-Prinzipal, der zuvor schon lange in Bonn als polyglotter Theatergeist wirkte, noch nicht zur Ruhe setzen: Beilharz inszeniert in der kommenden Saison ein französischsprachiges Stück in Burkina Faso (in der Nachbarschaft des von Christoph Schlingensief angestoßenen Opernprojekts), in Bukarest rumänisches Sprechtheater, in Italien italienisches und in Istanbul türkisches. Die letzte von ihm betreute Ausgabe des Wiesbadener Maifestivals, das sich vor allem auf Gastspiele stützt, ließ er mit einer Inszenierung von Dietrich Hilsdorf eröffnen, mit dem er schon in der alten Bundeshauptstadt eng zusammenarbeitete.
Man erinnerte (sich) an die „Elegie für junge Liebende“ von Hans Werner Henze. Der jobbte in jungen Jahren am Theater in Wiesbaden als Kapellmeister, sammelte dort einschlägige Bühnen- und Grabenkampferfahrungen. Sein Konversationsstück zur Hofhaltung des von den Zeitgenossen als Größe gefeierten Dichters Gregor Mittenhofer spielt im symbolträchtig benannten Berggasthof „Schwarzer Adler“ am Fuße des noch viel symbolträchtigeren Hammerhorns (es kam 1961 im Rokoko-Theater Schwetzingen zur Uraufführung, nicht allzu fern von Wiesbaden).
Erinnerungen
Das Werk stammt aus jener Ära, in der Henze allen Ernstes und ohne Anflug von Ironie als „Wirtschaftswunderkomponist“ gefeiert wurde. Es handelt sich um eine Arbeit, die den vom Ausgang des Kriegs und dem vorübergehenden Erlöschen der ‚Größe’ enttäuschten, etwas abgemagerten, dann willig umerzogenen und ökonomisch wieder geschwollenen Deutschen eine richtig schön kaputte Geschichte im Gefolge von Thomas Mann und anderen illustren Quellen kredenzte. Im Libretto von W.H. Auden und Chester Kallman, das der Komponist nachbesserte, jagt (nach dem Muster der britischen Boulevard-Komödie der 50er Jahre) ein Klischee das nächste. Doch immerhin (und dies wurde später von und für Henze als Zeichen des ‚Widerständigen’ reklamiert), wird die (Sehn-)Sucht des Protagonisten Mitterhofer nach Kunst- und Kulturgröße als bedenklich, wenn nicht gar als verwerflich vorgeführt.
Die leichtgeschürzte Ware zu einem tiefsinnigen Thema – der Unvereinbarkeit von wahrer Kunst und richtigem Leben im falschen – kompilierte aus mancherlei Quellen wie dem „Zauberberg” und dem „Doktor Faustus“ (ohne die subtile Ironie dieser großen Romane von den Krankheiten der Epoche vor 1914 beziehungsweise der künstlerischen Großmannssucht in einer besonders deutschen Ausprägung mitzutransportieren). Das Stück kolportiert auch ältere literarische Kommentare des alemannischen Theologen und Schriftstellers Johann Peter Hebbel sowie des Berliner Juristen, Musikers und Dichters E.T.A. Hoffmann zu einem Unfall in den Bergwerken von Falun. Der widerfuhr dem Steiger Elis Fröbom am Hochzeitstag, an dem er für seine Braut einen besonders schönen Stein aus der Tiefe holen wollte, von herabstürzendem Gestein aber für vier Jahrzehnte eingeschlossen, dann freilich, als die in treuer Liebe Wartende schon eine alte Frau war, überraschend und fast noch in alter junger Schönheit freigegeben wurde.
Emma Pearson bestreitet in Wiesbaden die Partie der Witwe Mack, die seit vierzig Jahren auf den am Morgen vor der Trauung beim Aufstieg zum Berggipfel abhanden gekommenen Liebsten wartet – und verwandelt sich, als bei heftigem Föhnwetter der Hammerhorngletscher abtaut und den tiefgefrorenen Körper ihres Kurzzeitehemanns freisetzt, für eine Erinnerungsszene in die schöne Braut von einst. Bei dieser Einlage finden Stimmkompetenz und das komödiantische Talent Pearsons in glücklicher Weise zusammen. Auch Sébastian Soules, der hochalpine Dichter und Charmeur Gregor Mittenhofer, profiliert sich zugleich mit souveränem Bariton und als Darsteller, der jederzeit einen österreichischen Minister beglaubigen könnte. Er führt durchaus glaubwürdig vor, wie dieser von den Zeitgenossen womöglich leicht überschätzte Poet die Frauen um die Finger zu wickeln versteht und sich dienstbar macht. Nicht nur die 23-jährige Elisabeth (Sharon Kempton stellt sich der Aufgabe, als ‚Muse‘ zu dienen, mit dem selbstbewusstem Sopran der jugendlichen Liebhaberin). Auch die mittelalte Gräfin von Kirchstetten, die all ihr Geld und ihre Zeit in das ‚Projekt Mittenhofer‘ investierte (ohne dafür im Krisenfall mehr zu bekommen als jene routinierte Demütigung, die auch die treuesten Sekretärinnen ereilt). Ute Döring singt die Selbstaufopferung der Gräfin mit Verve. Auch tobt sie deren Wachhündinnenfunktion energisch aus. Sie stenographiert die „Visionen“ der alten Frau Mack ebenso mit outrierten Gesten wie der Großkünstler selbst mit stark überzeichnetem Körperaufwand das laufende Leben mit dem Fotoapparat festzuhalten sucht. Grob und fein zugleich zeichnet Sébastian Soules das Desaster des alternden Mannes, der das Schwinden seiner virilen Kraftentfaltung zu spät reflektiert und nicht mit Würde die Kurve bekommt, obwohl er sich so außerordentlich (selbst)beherrscht zu geben sucht. Als ihm kaum eine andere Wahl mehr bleibt und er die Geliebte dem jungen Rivalen überlassen muss und dann allein auf der Bühne bleibt, tobt er, als wäre er Caspar, Max und Samiel zugleich in der Wolfsschlucht.
Das junge Paar, dessen Verbindung er nicht mehr aufhalten kann, lässt er, auf dass sie ihm Edelweiß suchen, in den Berg steigen. Überraschend selbst für den Bergführer Josef kommt es zum Wettersturz. Die beiden erfrieren nach unterlassener Hilfeleistung im Schneetreiben, ohne die seltene Pflanze gefunden zu haben. Markus Francke als Sohn des aus der Bahn und in den Alkoholmissbrauch geratenen Dr. Reichmann stirbt den Liebestod am nussbaumbraunen Klavier mit edler Tenor-Lineatur. Mittenhofer hält die Ansprache aus Anlass seines 60. Geburtstags, bei der er die vom Erfrieren von Elisabeth und Toni inspirierte Elegie vorträgt, vorm Eisernen Vorhang. Dergleichen könnte bei der Verleihung des Siemens-Musikpreises im Cuvilliés-Theater nicht würdiger und repräsentativer geschehen.
Minutiöse, überpointierte Erkundung
Dietrich Hilsdorfs Inszenierung sorgt für eine minutiöse, mitunter überpointierte Erkundung der Interessens- und Gefühls-Lagen der sieben handelnden Personen. Der soziale Realismus der Figurenführung entfaltet sich in einer Kombinations-Ausstattung von Dieter Richter: Der Bühnenbildner ließ den Berggipfel mit all seinen Schrunden, Scharten und Kaminen, Geröllhalten und Schneefeldern auf den Vorhang malen und ganz im Hintergrund nochmals aufscheinen. Dazwischen eine Küchenthekenecke, ein Sofa, eine Normaluhr überm Flügel und ein Abgang zu den Wirtschaftsräumen sowie zwei steile Metalltreppen hinauf zu den Appartements von Meister und Entourage.
Hans Werner Henze erwies sich vor einem halben Jahrhundert als versierter „Anwender“ der umlaufenden dezidiert nicht-serialistischen Schreibweisen. In denen pflanzte sich für heutige Ohren die vor 1945 gepflegte nationalrevolutionäre „Romantik“ deutlicher fort als man es zum Zeitpunkt der Uraufführung wahrhaben wollte. Henze komponierte freundliches Geplauder und schroff-herrische Anwandlungen, anschauliche Wetter- und Salon-Musik, zackigen Willen zur Macht und zarte Liebesbekundung. Er griff auf probate Mittel des harmonisch schönen Sehnens und Anrührens zurück. Alle Begleit-Instrumente der „Elegie“ sind solistisch besetzt, auch die Streicher – das schuf Transparenz und gibt eine gewisse blechbläserlastige Schärfe vor. Zsolt Hamar sorgte für eine luzide, technisch vorzügliche Wiedergabe der Partitur, die mit den Stimmen aller Beteiligten wie mit einem kurzen Requiem endet. Das gerät so schön und versöhnlich wie der Abend insgesamt. Nur eben ein wenig steif.