Die Debatten über die Schuldenkrise in Griechenland und Spanien haben nagende Zweifel an Europa wachgerufen. Die europäischen Jugendorchester sind aber offenbar noch nicht von solchen Krisen oder von Zukunftsangst betroffen. Trotz der hohen Jugendarbeitslosigkeit auf der iberischen Halbinsel machte das Nationale Jugendorchester Spaniens beim diesjährigen Young Euro Classic Festival weiterhin eine gute Figur. Das Festival konnte die Zahl seiner Besucher insgesamt noch einmal steigern, obwohl sich innerhalb von zehn Jahren die Kartenpreise verdoppelten und der Umfang der Programmhefte schrumpfte.
Ausgeweitet wurde dagegen das Programmangebot, das die europäischen Grenzen längst überschritten hat. Im vertrauten Rahmen des Berliner Konzerthauses und eingeleitet jeweils durch die Festivalhymne und prominente Paten werden immer wieder andere Kulturen und Kunstformen präsentiert. So war in diesem Jahr erstmals das kürzlich gegründete armenisch-türkische Jugendorchester vertreten, das auf dem Gebiet der Musik einen Brückenschlag versucht, der im politischen Sektor noch undenkbar scheint. Sein glanzvolles Festival-Debüt gab das Rumänische Jugendorchester, obwohl die Solistin, die Pianistin Mihaela Ursuleasa, nur zwei Tage vor dem Konzert überraschend 33-jährig verstorben war.
Zu den regelmäßigen Stammgästen von Young Euro Classic gehört dagegen das European Union Youth Orchestra, dessen 140 Musiker das Konzerthauspodium wieder fast bis auf den letzten Platz füllten. Während es sonst meist mit größeren Werken gastiert hatte, bot es nun 24 Filmmusikhäppchen, die einen weiten Bogen spannten von Stanley Kubricks „Odyssee im Weltraum“ bis zu George Lucas’ „Krieg der Sterne“. Vor allem war es eine Hommage zum 80. Geburtstag des Hollywood-Komponisten John Williams, den Schöpfer der Filmmusiken unter anderem zu „Der weiße Hai“, „Schindlers Liste“ und „Superman“. So wurde das Publikum mit knalligen Reizen überfüttert und zugleich ästhetisch unterfordert. Auch die Moderation Ulrich Wünschels richtete sich anscheinend an unerfahrene Hörer, die mit Sprüchen über Liebe, Mord und Seeräuber zum Phänomen Musik hingeführt werden sollten. Dazu passte die saloppe Begrüßung durch Dietmar Wunder, die Synchronstimme von James Bond, und das breitschultrig-plakative Dirigat des Belgiers Dirk Brossé. Eigentlich sind Young Euro Classic und sein Publikum schon weiter. Vor zwei Jahren hatte sich das Festival mit der Präsentation des Stummfilms „Nathan der Weise“ durch das Bundesjugendorchester dem Thema Filmmusik anspruchsvoller gewidmet.
Ein Orchester in Bewegung
Auch das 2008 gegründete Baltic Youth Philharmonic, ein Jugendorchester für die Ostsee-Anrainerstaaten, bot unter dem Titel „Baltic Voyage“ eine Art Potpourri. Dieses enthielt jedoch nicht nur Klassiker wie „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss, sondern auch Unbekannteres. So fiel etwa als Gemeinsamkeit zwischen dem Polen Wojciech Kilar, dem Esten Eduard Tubin und dem Letten Imants Kalninš eine Tendenz zu bewegten Klangflächen auf. Der estländisch-amerikanische Dirigent Kristjan Järvi, der jüngste Sohn von Neeme Järvi, gab fast allen Stücken, teilweise auf Kosten feinerer Dimensionen, einen vital rhythmischen Drive. Auch äußerlich war das Orchester ständig in Bewegung, denn von Stück zu Stück wurden die Pulte gewechselt. Für Furore sorgte die neue Komposition „Never Ignore the Cosmic Ocean“ des Litauers Gediminas Gelgotas, ein klanglich gut ausbalancierter Satz aus der Rock-Symphonie von Imants Kalnins sowie die Zugabe: Händels „Wassermusik“ in einer mitreißenden Jazz-Rumba-Fassung von Daniel Schnyder.
Beim Auftritt der niederländischen NJO Summer Academy überzeugte die Geigerin Cecilia Bernardini mit Bachs a-Moll-Violinkonzert. Ansonsten wirkte das auf historischen Instrumenten gespielte Programm recht konventionell. Kühner war der Pate des Abends, der Berliner Erzbischof Rainer Maria Woelki, der zur Begrüßung überraschend den Protestanten Karl Barth zitierte. Das Orchestre Français des Jeunes brachte unter der Leitung von Dennis Russell Davies die Symphonie Nr. 10 von Philip Glass, die dieser dem Orchester zum 30-jährigen Bestehen gewidmet hatte, zur deutschen Erstaufführung. Der Altmeister der Minimal Music griff hier erneut auf bewährte Stilmittel, wie pulsierende Akkordbrechungen, zurück. Hört man dieses erst drei Tage zuvor in Aix-en-Provence uraufgeführte Werk, dann ahnt man, dass auch die vorangehenden neun Glass-Symphonien kaum große Überraschungen geboten haben dürften. Der jungen Geigerin Fanny Clamagirand fehlte es in zwei Violinwerken von Camille Saint-Saëns zwar an Temperament, jedoch nicht an zarter Finesse des Klangs.
Zu den nichteuropäischen Gästen gehörte das MIAGI Jugendorchester aus Südafrika, das Nationale Jugendorchester Singapur und das Ural Jugendsymphonieorchester aus Jekaterinburg. Diese im Jahr 1723 von einem russischen Staatsmann gemeinsam mit einem deutschstämmigen Offizier gegründete Stadt, inzwischen die viertgrößte Stadt Russlands, liegt nur 40 Kilometer östlich der imaginären Grenze, die Europa und Asien trennt. Der Mongole Enkhabaatar Baatarjav leitete das sehr disziplinierte Orchester, das ausschließlich aus Musikstudenten aus Jekaterinburg besteht. Tschaikowskys „Capriccio italien“, Rimsky-Korsakows „Capriccio espagnol“ und sogar die musikalisch wie spieltechnisch anspruchsvolle Symphonie Nr. 1 von Schostakowitsch waren in gediegenen Wiedergaben zu erleben. Als Uraufführung hörte man das Orchesterwerk „Lux Aeterna“ der in Jekaterinburg lebenden Olga Viktorova. Die Entstehung des Lichts stellte sie darin durch ein großes Crescendo dar, das sich aus leisem Klopfen über verschiedene Klangflächen bis zum grellen Tutti entwickelte. Eine Laienjury vergab ihr dafür den Europäischen Komponistenpreis, für den in diesem Jahr dreizehn Werke nominiert waren.
Begegnung mit China
Eine Festival-Neuheit war ein Konzert mit Musik und Tanz, das unter dem Titel „Pas de Deux“ ungewöhnliche Begegnungen zwischen verschiedenen Kulturen vorführte. Tänzer aus dem erst im Vorjahr von John Neumeier gegründeten Bundesjugendballett wirkten dabei mit Musikern aus der Villa Musica Rheinland-Pfalz und dem Zentralkonservatorium Peking zusammen. Bei „Ich flamme – Tänze im Sonnenwind“ für Marimbaphon und Holzbläserquintett, einem neuen Werk des in Bayreuth lehrenden Marko Zdralek, ließ die Choreographie von Wang Sizheng kaum Bezüge zwischen der motorisch schnellen Musik und dem Tanz erkennen. Anders die Choreographie, die der junge Tänzer Patrick Eberts zu der mit europäischen und chinesischen Instrumenten besetzten Auftragskomposition „Les yeux verts cheveux noirs“ von Guo Yanwa schuf. Der Liebesgeschichte, welche die 1989 geborene Chinesin erzählte, entsprach dabei ein anmutiges Spiel mit Wänden und Bällen. Es war ein Vergnügen, die acht ausgezeichneten Tänzer bei ihrer konzentrierten Darstellung zu beobachten. Choreographische Elemente gab es sogar auch bei den Solo-Auftritten der chinesischen Musikstudentinnen, welche mit elegant fließenden Bewegungen die reichen klanglichen Möglichkeiten der Traditionsinstrumente Pipa (Laute), Erhu (Kniegeige), Guzheng (Wölbzither) und Sheng (Mundorgel) vorstellten.
Das Programm „Pas de Deux“ war zugleich Bestandteil des Kulturjahres China in Deutschland 2012, welches am 30. Januar mit einem Konzert des China Philharmonic Orchestra im Berliner Konzerthaus eröffnet worden war. Auch das Schleswig-Holstein Musikfestival hatte sich in diesem Sommer für den Länderschwerpunkt China entschieden. Dieses riesige Land, welches Leibniz einst das Europa des Ostens nannte, ist uns mit seinen Industrieprodukten nahe gerückt. Die Auseinandersetzung mit der chinesischen Kultur ist dagegen noch rudimentär und häufig auf den exotischen Reiz des Fremden beschränkt geblieben.
Während sich etwa der Pianist Lang Lang ganz in die westliche Welt eingeklinkt hat, ist der in New York lebende Komponist und Dirigent Tan Dun besser geeignet, zwischen westlichem und östlichem Denken zu vermitteln. Zum Abschluss des Festivals brachte der zuletzt mit dem Bach-Preis ausgezeichnete Chinese mit dem Schleswig-Holstein Festival Orchester russische und eigene Werke zur Aufführung, wobei er in jeder Hinsicht für Überraschungen sorgte. Das international besetzte Orchester, in dem männliche und weibliche Musiker etwa gleich stark vertreten waren (sonst dominierte in den Jugendorchestern oft das weibliche Geschlecht), spielte unter seiner Leitung Borodins „Polowetzer Tänze“ nicht folkloristisch, sondern stählern und modern. „Tan Duns Crouching Tiger Concerto“ für Erhu und Orchester, dem eine preisgekrönte Filmmusik zugrunde liegt, hatte auch als Solokonzert suggestive Wirkung, zumal der Komponist spielerisch-theatralische Momente wie Händeklatschen oder Schläge auf die Instrumente in die Aufführung einbezog. Stärker experimentell wirkte sein Konzert für Pipa und Streichorchester, das geräuschhafte Cluster und Schreie neben Bach-Zitate stellte. Der Komponist liebt Vielfalt und Gegensätze und ist darin ein Kind der Globalisierung. Widersprüche löst er nicht auf, was gelegentlich irritiert. Aber er erweitert – anders als etwa Philip Glass – ständig sein Klangmaterial und seinen geistigen und musikalischen Horizont. Leipziger werden in der Saison 2012/13 die Gelegenheit haben, Tan Dun als Composer in Residence beim MDR-Sinfonieorchester zu erleben. Kristjan Järvi, dem neuen Chefdirigenten dieses Orchesters, werden daraus interessante Aufgaben der Vermittlung erwachsen.