Das üppige Blond in Parkett und Logen spricht russisch. Reich behangen die Ohren und Hälse vieler Premieren-Damen, gediegen bis lässig die Anzüge ihrer Herren. Ja, da sitzt Geld (wie auch immer zusammen- und hierhergekommen). Gelegentlich zeigt sich eine ausschweifende Tätowierung dort, wo das Fleisch seine unmittelbare Geltung erheischt. Das meiste aber kommt, um es mit den Kategorien von Thomas Manns „Zauberberg“ zu definieren, vom „guten Russentisch“.
„Chowanschtschina” an der Staatsoper
Staatsopernintendant Dominique Meyer weiß, was er dem Teil seiner Klientel schuldig ist, der fortschreitend relevante Teile der Stadt aufkauft: Eine Nostalgie-Veranstaltung. Die Inszenierung des altbewährten sowjetisch-russischen Theater-Realisten Lev Dodin taucht auf dreifache Weise in ältere Sphären ein, ohne sich irgendwo und irgendwie festzulegen – und beschert dröhnenden Erfolg.
Zuvorderst ist die hohe Akzeptanz der von Dmitri Schostakowitsch an den Rändern leicht hollywoodisierten Musik von Modest Mussorgski zuzuschreiben. Schostakowitsch überzog den fragmentarisch gebliebenen, in manchem ungeschlachten Tonsatz mit filmmusikalischem Firnis aus dem Geist der 1950er Jahre. Unter den Händen von Semyon Bychkow, der exzessiv probte, erreicht die langatmige Partitur allemal gute Fließgeschwindigkeiten und großrussische Volltönigkeit. Bychkow hält immer wieder inne und sorgt dann dafür, dass sich der Sound neuerlich aufwölbt und zusammendräut. Die Momente der barbarischen Pracht, die das Wiener Staatsopernorchester mit Wonne, aber ohne Impertinenz ausstellt, gelingen ebenso wie die Morgenröte der Hoffnung auf bessere russische Zeiten, die epische Breite der Volks- und Glaubensgesangsszenen oder die seraphischen Schönheiten der Marfa-Partie.
Voller Nostalgie
Elena Maximova leistet stimmlich als Ex-Geliebte des Jungfürsten ebenso Maximales wie als sanft intonierende Wahrsagerin, als gute Seele der Altgläubigen oder als handfester Trostfaktor für den Sektenführer Dossifei. Dem verleiht der estnische Bassist Ain Anger hochgradigen Nachdruck, hohe Statur und stolze stimmliche Tiefen. Auch die anderen Männer-Partien sind in Wien glänzend und prominent besetzt – mit dem zum Stammpersonal der Staatsoper gehörenden Ferruccio Furlanetto als altem und dem virilen Christopher Ventris als jungem Chowanski sowie Andrzej Dobber als ziemlich dämonischem Intriganten und Mörder Schaklowity. Selbst der Tenor Herbert Lippert, zuletzt als Tannhäuser in Lübeck nur bedingt in Form, präsentiert einen noblen und überzeugenden Fürsten Golizyn.
Die Mitglieder der beiden Chöre – der hauseigene einstudiert von Thomas Lang, der aus dem benachbarten Bratislava zur Verstärkung herangezogene Slowakische Philharmonische Chor präpariert von Jozef ChabroĊ – trugen maßgeblich zu den imposanten Wirkungsmomenten des Premierenabends bei (das Doppel-Kollektiv sollte bei der Evaluierung des „Opernchors des Jahre“ in die engere Wahl gezogen werden). Aufgelockert wurden die Klagen, die finsteren Forderungen und die orthodoxen Litaneien der einheitlich dunkel kostümierten Chöre durch die „persischen Tänzerinnen“, die gleichfalls im Massen-Schwarz erschienen – ganzkörperverschleiert. Dann aber reckten die pro forma der strengen Kleiderordnung gehorchenden Animateurinnen auf Fürst Iwans Fest nacktes Bein und rollten sich die langen Gewänder in keuscher Obszönität über die Köpfe. Das war, neben der kurzen körperlichen Annäherung von Marfa und Dossifei, ein singulärer feinsinniger und -sinnlicher Moment in der ansonsten pauschalen und schematischen Personenführung.
„… ideologischen ‚Verwicklungen‘ aus dem Wege gehen“
Der Ausstatter Alexander Borovsky ließ ein Holzgerüst bereitstellen, das sich mit dem erwachenden Moskauer Morgen aus der Horizontale erhebt und am Ende wieder zu Boden sinkt – bedingt funktional zusammengefügte Balken und Bretter, die bei genauerem Hinsehen wie angekohlt wirken. Nach oben hin bilden die Holzteile Kreuzformen und sind in drei Etagen bespielbar (die Ebenen können gegeneinander verschoben werden). Diese vernagelte Welt bleibt historisch und geographisch unspezifisch. Die Mäntel der Fürsten sowie der Marfa heben sich allerdings durch hellere Tönungen und feine Musterung von der Gewandung der übrigen ab. Dergleichen Ausstattung sah man in den 60er Jahren in Prag oder Warschau, noch in den 80er Jahren in Dessau, Bratislava und Leningrad. Der unspezifische Bildgehalt ist die zweite Schicht des Nostalgie-Potentials und dürfte bei den Angehörigen der ex-sowjetischen Community in Wien Kindheitsmuster berühren. Szenisch bedient wurden Ausstattungselemente und Symbole, die weder auf ein christlich-mittelalterliches Russland noch ein moderneres zielen, mit den intensivsten Stehübungen.
Das Gestikulieren der bevorzugt wie angewurzelt stehenden „Hauptpersonen“ wechselt sich mit dem Niederknien der chorischen Volksmassen ab. Bewegung kommt ins Geschehen lediglich durch das Hoch- und Herunterfahren der Bühnenkonstruktion und im vierten Akt durch Vorbereitungen für die Massenhinrichtung der Strelitzen (dass sie allesamt am langen Galgen enden, wird in der Oper im letzten Augenblick durch einen Gnadenakt des jungen Zaren Peter I. abgewendet).
„Das Vergangene im Gegenwärtigen – das ist meine Aufgabe“, schrieb Mussorgski 1872, als er mit der Arbeit an Chowanschtschina begann, die ihn bis zu seinem Tode 1881 beschäftigte. Das Problem einer heutigen Inszenierung ist, dass ihr, wenn es vernünftig zugeht, am Herausprozessieren des Gegenwärtigen im Vergangenen gelegen sein müsste. Aber gerade dies schien der Regisseur Dodin zu scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Er entkleidete das Werk sowohl der auf das späte 16. Jahrhundert bezogenen Historizität wie der auf die Entstehungszeit der Oper gerichteten – und noch die kleinste Anspielung auf „Thronwirren“ in der Ära der neuen Zaren unterblieb (wobei sich die historische Phase des Übergangs der Macht von Gorbatschow auf Jelzin und Putin als Bezugsdimension durchaus anböte). Lev Dodin wollte offensichtlich allen ideologischen ‚Verwicklungen‘ aus dem Wege gehen. Mit dieser Vermeidungsstrategie dürfte zumindest eine gewisse Kremltreue zum Ausdruck gebracht und eine dritte Schicht des Nostalgie-Bedürfnisses anvisiert werden: Vorm Hintergrund des großen alten Leidens im und am alten Russland, das in der Wahnsinnstat eines kollektiven Selbstmords kulminiert (allerdings in schönsten höchsten Tönen) mag das neureiche russische Glück heute umso illustrer glänzen.
II: „Perlenfischer“ am Naschmarkt
Auf die finstere Tragödie in der Staatsoper folgte eine lichte Medien-Burleske im Theater an der Wien. Der Exotismus von Georges Bizets „Les Pêcheurs de perles“ wurde von Lotte de Beer, Marouscha Levy und Jorine van Beek als TV-Live-Ereignis à la Dschungelcamp aufbereitet. Ziemlich von hier und heute. Zur Ouvertüre werden an einem fernen Stand eine Blechhütte und die störende Originalbevölkerung abgeräumt, damit ein Fernseh-Team freie Schussbahn hat auf die schöne Aussicht am tropischen Gestade. Die Show, die naturreligiöse Bräuche der Aborigines herbeizitiert und verwurstet, wird fortdauernd evaluiert: Die Mitglieder des Arnold Schönberg-Chors mimen die stimmberechtigten und -gewaltigen Europäer in der Wohlstandswabe, die sich hinterm Gaze-Vorhang im Hintergrund zeigt.
TV-Live-Ereignis à la Dschungelcamp
In der Traumprospektstrandwelt treffen sich mit Zurga und Nadir zwei alte Freunde wieder, die sich geraume Zeit zuvor beide in Leila verliebten, aber einvernehmlich auf den Zugriff verzichteten, um sich nicht zu zerstreiten. Inzwischen ist Zurga Regionalmachthaber, Leila (incognito) hohe Priesterin des Medien-Zirkus – und Nadir der Tenor, der sich nicht an die Spielregel hält. Er wohnt der (warum auch immer) zur Keuschheit verdonnerten Schönen nächtens bei. Irgendwie kommt die archaische Gewalt der Ceylonesen mit der selbstverständlich promiskuitiven Medienwelt der Westler nicht auf einen sinnvollen dramaturgischen Nenner. Aber es ist durchaus lustig anzuschauen, wie Diana Damrau, die eine Zwanzigjährige zu spielen hat, sich mit Yoga-Übungen jung und elastisch zu halten sucht, dabei aber einen schmerzhaften Schenkelkrampf einfängt. Die Verkrampfungen im Hals lockern sich – und im Kampf auf Leben und Tod liefert die Sopranistin mit Nathan Gunn ein derart fulminantes Duett, dass sich die Gitterstäbe des improvisierten Fernsehgefängnisses biegen. Der gleichfalls totgeweihte Liebhaber Dmitry Korchak bezirzt mit seinem weichen Tenor die WienerInnen. Dem von der Rache absehenden Machthaber bekommt seine mildtätige Gnade nicht – immerhin stimmen 91 % für die Hinrichtung von Leila Damrau und Nadir Korchak! Das Fernsehvolk lässt seiner nicht spotten (die eingeblendeten Umfragen stellen es drastisch unter Beweis). Das bereits 1863 – also vor Wagners „Tristan“, Verdis „Aida“ und Mussorgskis „Chowanschtschina“ – auf den Liebestod eingeschworene Pärchen kommt frei und der lyrische Bariton auf eben jenen Scheiterhaufen, der diesem zugedacht war.
Alternative
Obwohl das Dirigat von Jean-Christophe Spinosi inspirierter hätte ausfallen können, zeigte sich das Premierenpublikum zufrieden, wenn nicht gar glücklich über „Perlenfischer – The Challenge“. Die Bearbeitung der Perlentaucher-Oper von Bizet durch die drei Holländerinnen besitzt Charme, bleibt freilich inkonsistent (das ist auch kein wirklicher Widerspruch). Insbesondere kneift das szenische Arrangement vor kritischen Fragen zum Exotismus und zum Zusammenprall der Kulturen (sollte dergleichen vorgeführt werden, wäre ein anderes Stück vonnöten). Bleibt die Frage, warum nicht offensiv zur verführerisch schönen Musik Bizets die Geschichte einer jungen Mitteleuropäerin erzählt wird, die nach Sri Lanka oder auf die Malediven reist, um dort ihre Neugier zu befriedigen, sich zu verlieben und bislang ungeahnte sexuelle Erfahrungen zu machen (in diesem Fall idealerweise mit einem knackigen Tauchlehrer), die dann in Konflikte verwickelt wird, deren Konsequenzen sie nicht absehen konnte und die für sie beinahe, für einen ihrer Partner aber tatsächlich tödlich enden. Ein solches Erzählmuster hätte eine weniger heitere Abendunterhaltung ergeben, mehr mit der sozialen Wirklichkeit zu tun und mit deren kritischen Kommentierung. Aber genau das will wohl weder die staatsoperntragende Theatermachart Lev Dodins noch das medientümelnde Entertainment der Niederrheintöchter.