Zum Klangrausch sondergleichen wurde das 1922 am Teatro Constanzi in Rom uraufgeführte Musikdrama „Giulietta e Romeo“ von Riccardo Zandonai nach Erfurt auch am Staatstheater Braunschweig. Der Kontrast beider Konzeptionen könnte größer nicht sein: Guy Montavon zeigt die glücklose junge Liebe als Vereinigung in einem Jugendinternat. Das große Orchesterintermezzo illustriert er mit Filmdokumenten von Mussolinis Luftwaffe. In Braunschweig setzt Regisseur Philipp Kochheim mit Dirigent Florian Ludwig auf messerscharfe Durchdringung und zeigt die Liebestragödie als letzten Wachtraum eines sterbenden Kriegsverletzten.
Das Orchester klingt in Braunschweig transparenter, tiefengestaffelter und viel nervöser als in Erfurt. Deshalb sind die archaisierenden Stellen nicht im sonderlich deutlichen Kontrast zu den massiven Geflechten des Instrumentalsatzes. Besser hörbar werden bei der glänzenden musikalischen Verfassung des Staatsorchesters Braunschweig aber alle Dynamikwechsel, Schraffierung, Relief und Detailzeichnung des permanenten Rumorens unter den Liebes- und Kampfszenen.
Auf Thomas Grubers die Traumata des Ersten Weltkriegs einfangenden Spielflächen ist die Welt ein brutales Schlachthaus und trostloses Lazarett. Menschliche Kommunikation reicht nur noch zu Aggression und geschlechtlicher Gier. Die Blicke eines Schwerverletzten und einer Lazarettschwester begegnen sich, Schnitt! Die Liebesszenen des Shakespeare sehr vereinfachenden Riccardo Zandonai (1883-1944) sind der letzte Traum des Kriegsverletzten Romeo Montecchio. Offen bleibt, ob Romeo vor seinem Tod den Glücksrausch und die Schmerzattacken als Erinnerung an Reales, Morphiumrausch oder Fieberphantasie durcheilt.
Philipp Kochheim belässt es nicht bei poetischen Inseln. Er schält all das an Todestrieb und Geschlechterdiskursen heraus, was Zandonai in seine lastenden Ariosi und wild aufgerauten Kantilenen legte. Den symbolistischen Versen hatte Arturo Rossato nach dem Scheitern mehrerer Vorgänger die gültige Form gegeben. Hier fallen Kriegstraumata und die Lust an sublimer Brutalität zusammen, das bedingt die Faszinationskraft dieser Oper. Dramatische Situationen zählen weniger als die morbide rumorende Grundstimmung.
Alle Kultur ist tot
Die stete Bedrohung dieser irrationalen Liebesobsession von außen, ihre aggressive Entflammbarkeit von innen werden zum Motor. Die attackierenden Phrasen singt Giulietta Capuleto auf einer Mauer mit hochragenden Kanonenhälsen. Romeo steht unter ihr und spannt sich selbst vor die Zügel des Karussellpferdes, auf dem seine Geliebte reitet. Kochheim zeigt die im Libretto ins Androgyne verschwimmende Polarität der Geschlechter. Zur nächsten Begegnung finden Giulietta und Romeo vor einer Regalwand mit Wildrosen. Alle Kultur ist tot. Auf einem Bücherberg lagert ein Kriegshubschrauber, in dem die Liebenden von Flucht und ungefährdeter Vereinigung träumen. Die Synchronie von Eros und Thanatos dreht immer höher, wenn Giulietta sich in einer spitzen Spiegelscherbe betrachtet und mit dieser ihren Verwandten Tebaldo von hinten niedersticht. Schuldig ist sie hier wie Romeo. Dessen Traum jagt von einem Gewaltmoment zum nächsten, bis Tebaldo als Arzt die Lazarettschwester Giulietta am Ende aus dem Sterbezimmer geleitet. Die melancholisch umflorte Ballade vom Tod Giuliettas schraubt sich hinein in einen animalischen Karneval mit einem Fleischer in blutiger Schürze, grotesken Frauenfiguren und den Eltern, die Romeo an sein Sterbelager phantasiert. Wenn Romeo an Giuliettas Grabstelle Gift nimmt und sie ihn ekstatisch in den Tod singt, kommt das szenische Geschehen zum langsamen Stillstand. Zandonais explosive Partitur tönt aufschreiend weiter.
Nicht nur stimmlich sind der Chor und Herren-Extrachor, die die Haupthandlung mit vielen kleinen Episoden umspielen, und auch die vielen kleinen Soli stark gefordert. Georg Menskens hat mit ihnen einen metallischen Klang erarbeitet. Aufwand und Energie des Chors sind fast auf gleicher Höhe wie die der drei Hauptpartien, die mit hellem, kräftigem Timbre hervorragend in der wogenden Apokalypse agieren. Giuliettas und Romeos Getriebenheit zeigt sich – kein Paradox - daran, dass Michael Pflumm und Tanja Christine Kuhn nie in ein gewaltsames Forte überdrehen, das ihnen schaden könnte. Die beiden überflügeln und berauschen sich am musikdramatischen Großeinsatz bis zum Äußersten. Mit dynamischer Kontrastschärfe überdeckt Florian Ludwig beide mehrfach vorsätzlich und erzeugt so Wellengänge ohne beruhigende Ebbe dazwischen. Der tenoral in die Höhe ziehende Bariton von Richard Ayres ähnelt dem Timbre Pflumms, was sehr gut zu den musikalischen Reizungen passt. Michael Ha (Sänger) und Ekaterina Kudrayavtseva (Isabella) seien genannt für die große Leistungsstärke des Ensembles.
Immer wieder macht es bewundern, wie in Braunschweig alle aus der Monumentalität Zandonais das Poröse und Vibrierende herausschälen. Damit bricht die Produktion entschieden eine Lanze für diese Extrempartitur, die mit anderer und mehr gewagter Farbigkeit als in Erfurt eine mitreißende, im besten Sinne spannend fragwürdige Substanz bestätigt.
- Wieder auf dem Spielplan: 03., 15., 17. 20. Juni – jeweils 19:30