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Musikland-Jahreskonferenz zeigt Perspektiven für geflüchtete Musiker. Foto: Hufner
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Fachtagung über verfolgte jüdische Musiker*innen in Thüringen an der Hochschule für Musik Weimar

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Am 12. und 13. November fand an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar die zweite wissenschaftliche Tagung zum Projekt „Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche“ statt. Wegen der Pandemie wurden die Referate, der Festvortrag und das Gesprächskonzert im Livestream übertragen. In der ersten Projektphase und einer Wanderausstellung (April 2018 bis Juni 2019) wurde grundsätzliches Material über Leben und Werk jüdischer Musiker vorgestellt. Die zweite Projektphase (Juli 2019 bis Juni 2021) schließt Gruppen wie die in Thüringen wirkenden jüdischen Kantoren und Mitglieder der Lagerkapelle des Konzentrationslagers Buchenwald ein. Eine weitere Ausstellung soll im Frühling 2021 eröffnet werden.

Bei diesem Gesprächskonzert hatte die digitale Präsenz unbestreitbare Vorzüge. Denn von den erklingenden Werken und ihren Komponisten steht in Sachbüchern und Nachschlagewerken so gut wie nichts. Unkundige Interessierte konnten parallel googeln. Das ist zwar nicht unbedingt korrekt, erwies sich aber für den Erstkontakt mit den Stücken als äußerst sinnvoll. Die Ausstellung. „Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen“ öffnete 2019 im Stadtmuseum Weimar das Tor zu einem vergessenen und verdrängten Teil der Weimarer Sozialtopographie in einer heute weltweit bekannten Kulturmeile und ihrer unsichtbaren Bänder in die Welt. Das zeigt sich auch immer wieder in Zufallskontakten wie jener mit einer sehr alten Dame, deren Tischnachbar ich während des Kunstfests Weimar im Hotel war. Sie wollte „Weimar noch einmal sehen“, nachdem sie „im Krieg habe wegziehen müssen.“ Über die Gründe schwieg sie. Auf meine bemüht unbefangene Frage, ob sie wiederkommen werde, verneinte sie mit abweisend stummer Geste. Solche Begegnungen sind in Weimar nicht selten. Sie verdeutlichen die Dringlichkeit der Aufarbeitung fast noch stärker als die Einführung durch Dr. Maria Stolarzewicz vom Lehrstuhl für die Geschichte der jüdischen Musik.

Der Lehrstuhl zeigte zum Beispiel mit der wissenschaftlichen Beratung zur Produktion der hebräischen Kammeropern „Saul in Ein Dor“ von Josef Tal und „Die Jugend Abrahams“ von Michail Gnessin des Theater Altenburg Gera auch Präsenz in der Praxis. Der im Mai 2020 erschienenen Aufsatzsammlung der ersten Projektphase sollte jetzt eine Vertiefung folgen. Die bedeutende Präsenz jüdischer Interpreten, Lehrkörper und Komponisten in Weimar zwischen 1918 und den Judenverfolgungen im Nationalsozialismus wurde insbesondere durch eine von Wolfgang Benz im Festvortrag erwähnte Zahl deutlich: Der Anteil von Juden an der deutschen Gesamtbevölkerung war nach dem Ersten Weltkrieg um 5% höher als vor 1914, was die hohe Attraktivität des Lebensraums Deutschland für die Minderheit trotz des zunehmend antisemitisch beeinflussten Gesellschaftsklimas bestätigt.

Beim abschließenden Gesprächskonzert erklangen einige Werke erstmals nach über 80 Jahren. Die Klavierstücke und Lieder von Gustav Lewin (1869-1938), der nach Invektiven eines deutschen Kollegen sein Leben freiwillig beendete, zeigen Affinität zur musikalischen Romantik nach 1850. Lewins „Caprice für Klavier“ hat eine extrovertiert virtuose Haltung. In den Liedern hört man eine auch von Mahler bekannte Imitation von Vogelstimmen über Terz- und Sextenparallelen. Die Begeisterung des Online-Rezensenten war in diesem Fall größer als der schüttere Applaus des physisch anwesenden Fachpublikums. Joachim Stutschewsky (1891–1982) verbindet Kunstmusik mit Klezmer-Intonationen und kommt den musikalischen Amalgamierungen von Ernst Bloch recht nahe. Ein spröder Koloss und deshalb bis zum letzten Ton fesselndes Stück ist die 1927 entstandene Klaviersonate von Hans Heller (1898-1969). Auch der Liederzyklus „Vom kleinen Alltag“ nach Texten von Anton Wildgans wäre eine lohnende Bereicherung des Repertoires.

Jascha Nemtsov ist ein pianistischer Strukturalist, der Durchhörbarkeit zu Nebenstimmen mehr favorisiert als akkordische Wellen. Teehila Nini Goldstein hatte mit Nemtsov bereits Lieder von Alberto Hemsi und Arnold Schönberg eingespielt. Betrachtet vom Endgerät zeigt sie überaus hohen Respekt vor der historisch grausamen Situation der Komponisten und ihrer ersten Interpreten. Es fehlte diesem Konzert deshalb weitgehend an dem, was die ausgewählten Werke im Umfeld von Strauss bis Schreker zum individuellen Leuchten bringen könnte: Die von den Interpreten zu steuernde Kolorierung zwischen hedonistischem Überschwang und sachlicher Skizze. Ein nächster Schritt wäre die mindestens ebenso überfällige Aufführung in Gegenüberstellung mit anderen Werken ihrer Entstehungszeit. Im Vergleich deutscher und jüdischer Kompositionen wäre nach nur wenigen Tönen erkennbar, wie absurd die wertenden Klassifizierungen der nationalsozialistischen Musikschreibung waren, die unterschiedliche Schreibweisen an der ethnischen Herkunft der Komponisten dingfest machten. Den fachfremden Hörern wurden auch unter diesem Aspekt wesentliche Wirkungsmomente vorenthalten, weil diese durch den Schleier von Betroffenheit nur schemenhaft erkennbar waren. 


  • Veranstaltung: „Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen II“, Goethe-Nationalmuseum Weimar / Do 12.11.2020: 11:00 Prof. Dr. Jascha Nemtsov (Weimar-Jena, Potsdam) „Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben“: Der Komponist Hans Heller (1898-1969) und seine vokalsymphonischen Werke - 12:00 Dr. des. Carolin Schäfer (Sondershausen) Wohlbehütet im Schoß der Familie? Zu Leben, Wirken und Flucht der Sondershäuser Musikerin Alma Leser-Heinrich und der Familie Leser - 15:00 Dr. Albrecht Dümling (Berlin) Hans Severus Ziegler, Ernst Nobbe und Paul Sixt. Die Weimarer Wurzeln der Ausstellung Entartete Musik - 15:45 Christine Oeser M.A. (Osnabrück) „Wir wollen trotzdem Ja zum Leben sagen“. Liedsammlungen aus dem Konzentrationslager Buchenwald - 17:15 Dr. Inna Klause (Göttingen) „Unter fremdem Himmel“. Notenmanuskripte aus der Buchenwaldsammlung des Hochschularchivs | Thüringischen Landesmusikarchivs in Weimar - 18:00 Prof. Dr. Jens-Christian Wagner (Weimar) Erkenntnis statt Bekenntnis. Perspektiven der Gedenkstättenarbeit in Thüringen / Fr 13.11.2020: 09:30 Dr. Carsten Liesenberg (Erfurt) Vom Klang des Schabbats in der Gemeinde der Laien. Vorbeter und Kantoren als Stützen der gesungenen Liturgie. Einblicke in Lebenswege aus Thüringen - 10:15 Dr. Maria Stolarzewicz (Weimar-Jena): Einblicke in die Arbeiten am Projekt Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche II - 11:15 Wolfgang Herzberg (Temmen/Ringenwalde): Meine Tante Florence Singewald, eine Operettensängerin, überlebte Auschwitz und erzählte mir aus ihrem Leben in Berlin und Erfurt, vor und nach 1945. Einige Thesen über Klischees heutiger Erinnerungskultur - 13:30 Spaziergang mit Dr. Bernhard Post zum Haus von Jenny Fleischer-Alt in der Belvederer Allee 6 in Weimar - 15:00 Prof. Dr. Beatrix Borchard (Hamburg): Zur Rolle insbesondere der Instrumentalmusik für den jüdischen Akkulturationsprozess - 15:45 Dr. Bernhard Post (Weimar): Maximilian Fleischer (1812-1871) und seine Nachkommen – Unternehmer, Künstler, Mäzene Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, Festsaal Fürstenhaus - 17:30 Prof. Dr. Wolfgang Benz (Berlin): Vor der Katastrophe. Juden und Judenfeinde in der Weimarer Republik (Festvortrag) - 20:00 Gesprächskonzert: Werke von Gustav Lewin (1869-1938), Joachim Stutschewsky (1891-1982) und Hans Heller (1898-1969) mit Tehila Nini Goldstein (Gesang) und Prof. Dr. Jascha Nemtsov (Klavier und Moderation)

 

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