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Pierre Boulez bei der Probe mit den Berliner Philharmonikern. Foto: Berliner Festspiele/Kai Bienert
Pierre Boulez bei der Probe mit den Berliner Philharmonikern. Foto: Berliner Festspiele/Kai Bienert
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Falte um Falte, in Beziehungen gesetzt

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Boulez, Berio und Strawinsky beim Musikfest Berlin 2010
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Mit seinem bislang anspruchsvollsten Programm umkreiste das diesjährige Musikfest Berlin das Schaffen eines einzigen Komponisten: Pierre Boulez. Direkt von Luzern, wo er anlässlich seines 85. Geburtstags ausgiebig gefeiert worden war, kam der immer noch vitale Künstler nach Berlin. Hier war er seit den Festwochen von 1957, bei denen er sein Durchbruchswerk „Le Marteau sans maître“ präsentierte, regelmäßig zu Gast gewesen, als Komponist wie als Dirigent der Philharmoniker und der Staatskapelle. Obwohl Daniel Barenboim hier schon mehrfach kleine Boulez-Festivals durchführte, hat es in der deutschen Hauptstadt noch nie – wie jetzt – 17 Boulez-Aufführungen innerhalb weniger Tage gegeben.

Neben Boulez als Hauptsonne fungierten der im gleichen Jahr 1925 geborene Luciano Berio sowie Igor Strawinsky als Nebensonnen, die das Schaffen des zu feiernden Meisters weiter „beleuchten“ sollten.  Immerhin verband Boulez und Berio neben der langjährigen Freundschaft auch der Glaube an die Dialektik der Komplementarität von Schönberg und Strawinsky. Die Koppelung mit Strawinsky war eine gute Entscheidung, hatte dieser doch das Schaffen der beiden Komponisten stärker beeinflusst, als allgemein bekannt ist.

Zum besseren Verständnis verhalfen neben gut besuchten Einführungsveranstaltungen außerdem Lieblingswerke der Porträtierten, die ergänzend erklangen. So war es eine originelle Idee, beim Eröffnungskonzert Werken von Luciano Berio die Symphonie „Harold en Italie“ von Hector Berlioz gegenüberzustellen. Denn schon diese 1834 entstandene Komposition, bei der die großartige Solistin Tabea Zimmermann das von Daniel Harding geleitete London Symphony Orchestra ergänzte, griff mit Pilgerzug und Serenade präexistentes Material auf und war damit ein Vorläufer für Berios Polystilistik. Mehr als dessen noch sehr im Ausgangsmaterial verhafteten „Folk Songs“ überzeugte die artifiziellere, auch Mahler aufgreifende „Sinfonia“ für acht Singstimmen und Orchester, ein Requiem für den ermordeten Bürgerrechtler Martin Luther King. Luciano Berio, der für das Musikleben Italiens eine ähnlich dominierende Rolle spielt wie Boulez für Frankreich, war bislang in den Berliner Konzerten nur selten zu hören. Aufführungen von elf seiner Werke schlossen nun diese Informationslücke und machten deutlich, dass sie offener und kommunikativer sind als die von Boulez, aber klanglich leider nicht immer im gleichen Maße durchgearbeitet. So beeindruckten beim Auftritt des Concertgebouworkest mit Mariss Jansons die prägnanten Kompositionen von Igor Strawinsky („Bläser-sinfonien“ und „Feuervogel“) und Béla Bartók („Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“) viel stärker als Berios vier Opernbruchstücke, welche Boulez posthum zu der Komposition „Quatre dédicaces“ vereinte. Dagegen hätte man seine massiv besetzte „Stanze“ für Bariton (kaum hörbar: Dietrich Henschel), drei Männerchöre und Orchester, die in apokalyptische Visionen ein groteskes Gedicht von Alfred Brendel einschob, gerne noch einmal gehört. Vladimir Jurowski und das London Philharmonic Orchestra hatten das Werk in ein düster-lautstarkes Programm eingebettet.

Berios „Voci“ für Viola und zwei Instrumentalgruppen sind eigentlich ein Bratschenkonzert über folkloristische Melodien aus Sizilien, das dem von Marek Janowski geleiteten Rundfunksinfonie-Orchester Berlin meist nur eine Begleitrolle zuwies. Interessanter war an diesem Abend die Gegenüberstellung der von Berio geschätzten Ballettmusik „Agon“ von Strawinsky mit der Strauss’schen Orchestersuite „Der Bürger als Edelmann“, die ebenfalls historisches Klangmaterial aufgriff. Auch im Konzert des Bayerischen Staatsorchesters unter Kent Nagano verblasste Berios nebulöses „Concerto“ für zwei Klaviere und Orchester gegenüber Richard Strauss („Metamorphosen“) und Igor Strawinsky („Petruschka“).

Das anregende Programm des Konzerthausorchesters unter Lothar Zagrosek widmete sich mit Berios „Sequenza II“ und „Chemins I“ sowie dem Doppelkonzert Witold Lutoslawskis zunächst der Harfe (herausragend: Frédérique Cambreling), um dann das als Raumkomposition gespielte „Rituel in memoriam Bruno Maderna“ von Boulez folgen zu lassen. Ebenso erhellend war die Koppelung von Strawinskys Tanzkomödie „Pulcinella“ mit Berios „Coro“ für 40 Stimmen und Instrumente bei den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle. Dieses 1976 in Donaueschingen uraufgeführte Werk überträgt die afrikanische Heterophonie auf einen europäischen Kontext und koppelt höchst originell jeweils einen Orches-termusiker mit einem Sänger aus dem Rundfunkchor Berlin zu einem Paar. Indem Berio die gesungenen Texte durch wiederkehrende Zeilen von Pablo Neruda unterbrach, erinnerte er an die gewaltsame Zerschlagung der chilenischen Demokratie am 11. September 1973. Dass dieses musikalische Memorial am Vorabend des Jahrestages gespielt wurde, war im Programmheft allerdings nicht vermerkt.

Obwohl das Musikfest Berlin ein Orchesterfest ist, wollte Winrich Hopp, der Künstlerische Leiter, die Institution Orchester teilweise in Frage stellen. Tatsächlich tendiert die Neue Musik seit Schönbergs Kammersymphonie op. 9 zu kleineren Besetzungen, zu Gruppen. Das diesjährige Musikfest folgte dieser Tendenz und ließ sich bei der Programmgestaltung durch Besetzungswechsel und die Aufspaltung des Orchesters in Klanggruppen nicht beeindrucken. Deshalb gab es ungewöhnlich viele Umbaupausen, bei der die jeweiligen Orchesterwarte ihr Organisationstalent zeigen durften. Einfacher hatten es Ensembles wie die MusikFabrik, die angesichts ihrer kleineren Besetzung auf solche Unterbrechungen weitgehend verzichten konnten. Angelehnt an den Titel einer ethnologischen Studie von Claude Lévi-Strauss wurde das reizvolle Programm „Rohes und Gekochtes“, also Ursprüngliches und Artifizielles, einander gegenüber gestellt. Dazu passte gut Berios Komposition „Naturale“, die einem Bratschensolo die eingeblendete Stimme eines sizilianischen Volkssängers konfrontierte. Das von Peter Eötvös geleitete Konzert bildete außerdem eine Hommage an Pierre Boulez, nicht zuletzt in Gestalt der kurzweilig aparten Eötvös-Komposition „Steine“.

Werke von Boulez dominierten die zweite Hälfte des Festivals, die – seine Dogmatismen ausblendend – den Komponisten als weltoffenen Künstler präsentierte. Musiker des hervorragenden Ensemble Intercontemporain widmeten sich in zwei schwach besuchten Kammerkonzerten früheren Werken wie der irrwitzig schwierigen Zweiten Klaviersonate. Im Hinblick auf diese Komposition hatte der damals 21-jährige Boulez nicht ohne Arroganz erklärt: „Ich wollte aus meinem Vokabular absolut jede Spur des Überkommenen tilgen.“ Dimitri Vassilakis funktionierte hier wie eine Präzisionsmaschine. Es wäre aber wohl falsch, den hohen Respekt vor der Leistung des Interpreten ungeprüft auch auf das Werk zu übertragen. Zweifelhaft bleibt, ob man diese einschüchternd unfassliche Klangwelt jemals so lieben wird wie Schönbergs Opus 11 oder Ligetis Etüden. Obwohl auch die „Structures“ für 2 Klaviere den Hörer überfordern, waren sie immerhin als gestische Musik wahrnehmbar. Dagegen überzeugte das Meisterwerk „Le marteau sans maître“ (mit der Solistin Margriet van Reisen), weil hier die Systematik der wechselnden Besetzung unmittelbar sinnlich wurde. Prominent trat dabei das Vibraphon hervor, das zu einem Erkennungszeichen von Boulez geworden ist. Klarer als in anderen Werken zeigte sich an diesem Beispiel, wie der Komponist, der einmal Ethnologie studieren wollte, von fernen Kulturen profitierte. Viel lernte er aber auch vom „Pierrot lunaire“ Arnold Schönbergs, also von einem Komponisten, den er noch 1951 für „tot“, das heißt irrelevant, erklärt hatte.

Boulez, der sich in seiner Jugend extrem dogmatisch gebärdete, der die Sprengung der Opernhäuser empfahl und tonale Anklänge bei Henze und anderen empört ablehnte, hat zwar als Alternative das Ensemble Intercontemporain gegründet, aber dennoch über Jahrzehnte mit herkömmlichen Orchestern zusammengearbeitet. Dort sind seine Werke bis heute nicht wirklich heimisch geworden. Obwohl das Deutsche Symphonie Orchester Berlin von David Robertson, einem ehemaligen Chef des Ensemble Intercontemporain, geleitet wurde, verblasste hier Boulez’ „Figures-Doubles-Prismes“ hinter dem Klangrausch von Ravels „Daphnis und Chloë“, wozu wohl auch beitrug, dass die fünf hier eingesetzten Klanggruppen auf dem Philharmonie-Podium nicht genügend getrennt waren.

Bei den Berliner Philharmonikern dirigierte Boulez mit sparsamster Zeichengebung und in die Noten vertieft Strawinskys Musikmärchen „Le Rossignol“, das erste Werk dieses Komponisten, das er 1942 im Radio gehört hatte.  In dieser enorm farbenreichen Partitur bildete die Flöte Emmanuel Pahuds den instrumentalen Gegenpol zu der von Barbara Hannigan anrührend gesungenen Nachtigall. In Boulez’ eigener, Strawinsky gewidmeter Komposition „explosante – fixe“ stand die Flöte sogar noch stärker im Mittelpunkt. Innerhalb der klar gegliederten Dreiteiligkeit, die durch Ein- und Ausschalten des Saallichts noch unterstrichen wurde, walteten dann aber doch schematisch wirkende Bewegungsmuster.

Da Wolfgang Fink, der neue Intendant der Bamberger Symphoniker, ebenso wie deren Chefdirigent Jonathan Nott Boulez-Fan ist, wagte sich dieses Orchester an die enorm aufwändige Trauermusik „Pli selon pli“, obwohl diese große Teile der Riesenbesetzung über lange Strecken unbeschäftigt lässt. Der Komponist hat dieses dunkel-hermetische Werk erst allmählich, „Falte um Falte“ entwickelt. Mit der Gesangssolistin Yeree Suh, die sich mit ihrem schwierigen Gesangspart eher an sich selbst, als an das Publikum zu richten schien, hatte es sich auch nach dem abschließenden Grabgesang noch nicht wirklich erschlossen. Zum Abschluss des Festivals bot Daniel Barenboim mit der Staatskapelle ein reines Boulez-Programm, wie er es ähnlich schon zum 75. Geburtstag des Komponisten präsentiert hatte. Neu war allerdings, dass er jetzt nicht nur Klavier spielte und dirigierte, sondern auch als Moderator in Erscheinung trat. Zusammen mit elf kompetenten Musikern bemühte er sich um Verständnis für das überkomplexe und überlange Werk „Dérive 2“, ohne dieses aus der früheren Komposition „Répons“ hergeleitete Derivat doch dadurch retten zu können. Die Gegen-überstellung der frühen „Notation“ für Klaviersolo mit den späten Orchesterfassungen war plausibel und entlarvend, zeigte sie doch, dass die luxuriöse Verdickung, die kulinarische Annäherung an Strauss und Wagner sowie die Ausweitung und Wucherung („prolifération“) der sprechenden Prägnanz der frühen Klavierstücke eher geschadet hat. Boulez war bei allen ihm gewidmeten Konzerten anwesend, ließ sich aber nur ungern feiern. Nur Barenboim gelang es, ihn am letzten Abend auf das Konzertpodium zu holen. Vielleicht ist der Meister inzwischen wirklich bescheidener geworden und fragt sich insgeheim, ob die arrogante Geste, mit der er einst auftrat, immer berechtigt war. Die Ovationen, mit denen er zum Schluss bejubelt wurde, galten wohl nicht nur dem Komponisten, sondern auch der Lebensleistung dieses Künstlers als Dirigent, Organisator und Musikdenker.

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