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Annemarie Wolf (Mephisto) und Caspar Krieger (Gretchen) in der Szene „Dom“. Foto: Christine Rudolf
Annemarie Wolf (Mephisto) und Caspar Krieger (Gretchen) in der Szene „Dom“. Foto: Christine Rudolf
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„Faust“ im Psychorausch – Musiktheaterprojekt an Lübecks Hochschule

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„Faust – ein Singspiel“ nannte die Musikhochschule Lübeck (MHL) ihr neuestes Praxisprojekt für und mit Studenten, die „das Große aller Zeiten“ auf die Bretter, „die die Welt bedeuten“, bringen wollen. Schiller steht für die allbekannten Worte Pate und der Hamburger Film- und Opernregisseur Jürgen R. Weber dafür, dass das Projekt spannend umgesetzt wurde. Seit Oktober letzten Jahres ist er an der Trave als Dozent mitverantwortlich für die Ausbildung in der Opernsparte und legte mit seinem „Faust“ seine erste Regiearbeit in Lübeck vor.

Das Ergebnis wurde zunächst in Bad Oldesloes Kultur- und Bildungszentrum präsentiert, inzwischen schon eine Art Außenstelle. Zwei Wochen später (27. und 28. Januar 2018) wird es in eigenen Gemäuern in Lübeck nachgespielt. Der Untertitel verkündet, dass Singspiel sei „von Johann Wolfgang von Goethe in einer Fassung von Jürgen R. Weber“. Goethe kennt man, allerdings weniger ein Singspiel von ihm unter diesem Titel. Man weiß auch, dass er, der Dichter, in beiden Teilen seiner Dichtung opernhaft gestaltet hat, Texte für Chöre und Lieder verfasste, auch seinen Faust II gern vertont bekommen hätte. Um 1830 hielt Eckermann fest, dass ihm Mozart geeignet gewesen wäre, aber der war tot. Auch Meyerbeer, Rossini oder Beethoven hätten seinem Gusto entsprochen. Doch das blieb ebenfalls aus und so ist diese Lübecker Version dann wohl eher eine Fassung des Regisseurs.  

Gender-Wirrnis

Für seinen „Faust“ orientiert Weber sich an Goethe, dreht die Gestalten allerdings munter durch den Gender-Wolf. Das trifft alle Figuren, soweit sie in diesem Reduzierstück auftreten, denn er nutzt nur einige wenige Szenen der Vorlage. Das sind jene, an die sich der mit seinem Gelehrtenleben unzufriedene, mit Mephisto paktierende Titelheld erinnert. Denn das Stück gibt sich als eine Art Retrospektive, in der so manches in der Erinnerung sich verkürzt oder verändert. Faust entdeckt zumindest seine undefinierte Geschlechtlichkeit wieder, daher tragen temporär auch andere, auch Soprane, sein Signum, einen fransigen, eisgrauen Wichtelbart. Das züchtige Gretchen ist ebenfalls ambivalent. Sie ist durch eine leicht abnehmbare Kappe (auch Stirnband) mit zwei Puscheln kenntlich, bekommt jedoch zwischenzeitlich eine Baritonstimme, wenn sie sich z.B. mit Faust in Marthes Gärtchen trifft oder von Mephisto im Dom bedrängen lässt. Bei den verbliebenen anderen Gestalten, bei Mephisto vor allem, auch bei Marthe Schwerdtlein, der kupplerischen Nachbarin, vielleicht sogar bei Gretchens Bruder Valentin, der ja auch eine Schwester hätte sein können, spielt das Geschlecht eh weniger eine Rolle: das Böse ist geschlechtsneutral und mit rothaarigem Kopfputz mit Feder sofort bestätigt. Und auch Marthe (wie einst die Flickenschildt) klingt immer schon androgyn tief timbriert, und mit dem Degen schließlich wissen Damen jetzt wie früher geschickt zu parieren. Der Gendermix liegt gar nicht so weit weg.  

Praxistraining

Aber das ist Jürgen R. Webers Thema wohl auch nicht, eine inhaltlich tiefe, in sich schlüssige Vorstellung zu bieten. Es reicht schließlich, dass man dem bekundeten Anspruch der Hochschule nachkommt, „Praxistraining … im Studienplan fest verankert“ anzubieten. Denn da genügt nicht allein das hochlöbliche Opernelitestudio, die Kooperation zwischen der Hochschule und dem Stadttheater. Das offeriert sechs weitgehend Ausgebildeten Chancen, sich in kleinen Rollen unter Profis zu beweisen. Hier bietet man immerhin neun Vertretern der internationalen Studentenschaft, darunter eine Ukrainerin, ein Armenier, ein Koreaner, ein Korse, ein Syrer und auch vier aus Deutschland, einen Rahmen zum Singen und Agieren.  

In einem irgendwie motivierten Rahmen wird gemimt und gesungen, im Solo, im Duett bis hin zum Ensemble. Und es wird getanzt und parodiert, agiert zwischen Klamotte und empfindsamer Szene. Weber bietet seinen „Faust“ in einem Traumspiel feil – oder ist es ein Psychorausch, bei dem die Figuren insgesamt diffus bleiben? Alle sind schwarz gekleidet. Damit wenigstens der Zuschauer den Überblick behält, wer oder was in der Kleidung steckt, erhalten die Sängerinnen zwei an Bändern von der Hüfte herabhängende Puschel. Den Sängern klebt einer in Höhe des Gemächts. Zur Erinnerung: Gretchens (Narren)Kappe hatte je einen Puschel rechts und links an den Ohren und die ziert mal diesen, mal jenen Kopf, wie auch der rote Putz und Fausts Bart munter die Darsteller wechselt. Die Puschel sind zudem praktisch, die Ohren zu schonen oder Valentins Degen von Blut zu reinigen. Phantasmagorisch verzerrt sich für Faust die Erinnerung an Studierzimmer, Auerbachs Keller, an Gretchens kleines reinliches Zimmer und an die Begegnung mit ihr im Garten. Sehr konsequent und dicht sind die Erinnerungen an Valentin verarbeitet, auch Gretchens wachsende Verzweiflung vom Spinnrad über das Gebet im Dom bis zum Irrsinn im Gefängnis, auch wenn oder weil hier das Prinzip verlassen ist, durch Brechungen die Gestalten aufzufächern.

Musikalische Fundgrube

Mit ihrem Wiedererkennungswert helfen dem, der seinen „Faust“ im Kopfe hat, ein paar gesprochene Dialoge zwischen den Gesängen, soweit sie die internationale Besetzung verständlich artikuliert. Es helfen auch die Gesangsnummern, die – und das ist ein geschickter Gestaltungansatz – unterschiedlicher musikalischer Fantasie entsprungen sind. Verdis Romanze „Deh, pietoso, o Addolorata“, trefflich gesungen von Anna Maria Wünsche, steht am Anfang, deutsch übersetzt wird sie später in der Domszene. Dort hat Natalija Valentin mit „Ach neige, du Schmerzensreiche“ nach Pfitzners Noten einen der feinsten musikalischen Momente. Berlioz‘ „Le Roi de Thulé“ und Wagners „Meine Ruh ist hin“ sind Glanzstücke für die Mezzosopranistinnen Annemarie Wolf und Tanja Renz. Wagner wird gern verwandt, auch seine Vertonung von „Es war eine Ratt‘ im Kellernest“, vom Bariton Caspar Krieger kraftvoll gesungen. Hussain Atfah erntete für Valentins Gebet in Gounods Vertonung großen Szenenbeifall. Der dritte Bariton, Ko Hyunsik, gestaltete in Ständchenmanier Julius Röntgens „Was machst du mir“. Sargis Mzikyan gibt Loewes „Lass mich knien“ mit edlem Tenor Sentiment, während Erwan Tacher zwar einen edlen Bass vorführen kann, der aber Mussorgskis vertracktes Flohlied, russisch gesungen, zu ernst nimmt.

Schumanns Faustszenen waren natürlich dabei, Schuberts „Gretchen im Dom“ wie Dessaus „Meine Mutter, die Hur“. Diese Vielfalt wurde durch einen Orchesterklang „geeint“, den ein Saxophon-Quartett mit häufig auch für Geräuscheffekte genutztes Schlagzeug und ein eher schepprig klingendes E-Piano unter Robert Roches Leitung erzeugten. So wurde die gesamte Inszenierung auch musikalisch in die Nähe des distanzierenden epischen Theaters gerückt, allemal bei dem großen Finale mit Mahlers verklärendem Schluss seiner 8. Sinfonie.

Die zweite Aufführung füllte den kleinen Saal mit großem Applaus.

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