Wenn die Regensburger Tage Alter Musik als Seismograph der Szene funktionieren, dann sind da in letzter Zeit keine größeren Erdbeben zu verzeichnen gewesen. Aber manchmal ist eine kleine Erschütterung, ein feines Zittern auch eindrücklicher, hallt länger nach.
Das kanadische Ensemble Masques vermag solches zu erzeugen. Angeführt von der geigerischen Finesse einer Sophie Gent und zusammengehalten von Olivier Fortin an Cembalo und Orgel entwickelt es einen wunderbar ausbalancierten, durch zwei Bass-Gamben und Violone dunkel vibrierenden Klang, der dem deutschen Instrumentalrepertoire des 17. Jahrhunderts bestens bekommt. So vermag das frei mäanderende Phantasieren eines Heinrich Ignaz Franz Biber oder eines Johann Heinrich Schmelzer in jedem Takt zu überraschen und zu faszinieren. Wenn dann Countertenor Damien Guillon auch noch Dietrich Buxtehudes hinreißendes Klag-Lied „Muß der Tod denn auch entbinden“ anstimmt, ist im stillsten, unspektakulärsten Moment gleichzeitig ein Gipfelpunkt des Festivals erreicht.
Am anderen Ende des Spektrums, kaum weniger eindringlich, singen acht Choristen in Händels „Messiah“ um ihr Leben. Die Dubliner Uraufführung von 1742, die das britische Solomon’s Knot Baroque Collective heraufbeschwören will, war zwar sicherlich etwas größer besetzt, doch wenn die SängerInnen sich nach ihren jeweiligen (nicht ganz so überzeugenden) Arienauftritten zu einem auswendig singenden Minimalchor zusammenfinden, hat das schon eine elektrisierende Wirkung. Dynamisch feiner und plausibler durchgearbeitet hat man das „Hallelujah“ kaum je gehört.
Instrumentales
Rein instrumentale Programme waren an diesem langen Pfingstwochenende klar in der Minderheit. Zwei von ihnen wagten sich außerdem historisch am weitesten von der „Alten Musik“ weg. Susanna Ogata hatte sich zusammen mit Ian Watson am Hammerflügel Beethovens Sonaten für Klavier und Violine Opus 30 vorgenommen, und auch wenn Ogatas Entscheidungen für oder gegen Vibrato nicht zu jedem Zeitpunkt interpretatorisch nachvollziehbar wurden, gelang den Beiden doch insbesondere in der c-Moll-Sonate eine klanglich intelligent durchgearbeitete und energisch durchpulste Lesart.
Die Mittelalter-Truppe Les haulz et les bas hatte indes gleich im Leeren Beutel Quartier bezogen, wo sonst der Regensburger Jazzclub seine Konzerte serviert. Um Saxophon und eine Rhythmusgruppe verstärkt, versuchte man sich am munteren Crossover und brachte die alten Tanzmelodien zum Swingen. Vom Jazz-Standpunkt aus betrachtet war das Ganze auf eher mittlerem Niveau angesiedelt, aber für wippende Beine und gute Laune reichte es allemal.
Vokales
Hochkarätig Vokales gab es dann aber reichlich: In großer Besetzung hatten die Regensburger Domspatzen unter Roland Büchner zur Eröffnung Haydns eigenwillig ausladende Cäcilienmesse von 1773 präsentiert. Die ausgezeichnete, vom L’Orfeo Barockorchester bestens gestützte Interpretation konnte indes nicht über manche Länge des Werkes hinweghelfen, und man sehnte sich mitunter nach dem Esprit der einleitenden C-Dur-Symphonie (Hob. I:38) zurück.
Mit großer Risikobereitschaft ging die junge britische A-cappella-Formation The Gesualdo Six ihr Deutschland-Debüt an. Nach anfänglichen Intonationstrübungen fanden die sehr charakteristischen, immer wieder expressiv hervortretenden Einzelstimmen zu einer sehr speziellen Form von Homogenität, die vor allem in den eigentümlich zwischen Gespanntheit und Loslassen sich bewegenden Schlusswendungen zur Geltung kam. Das Programm reihte Perlen englischer Vokalpolyphonie von Dunstable bis Thomkins auf, mit John Taverners unwiderstehlich aus der Tiefe aufsteigendem „Quemadmodum“ und John Sheppards, in der Ausdrucksintensität der Gesualdos beinahe wie postromantischer Renaissance-Fake wirkenden „Libera Nos“-Vertonungen als Höhepunkten.
Polyphon tönte auch die tschechische Cappella Mariana, verdoppelte dabei aber, etwa in einer Messe von Philippe de Monte, die exquisiten Singstimmen mit Posaunen und einem Zink. Den gab es auch beim belgischen Ensemble Scherzi Musicali zu bewundern, von Adrien Mabire so geblasen, dass er der menschlichen Stimme im Timbre und in der Beweglichkeit so nahe kommt, wie es eben geht. Das aus Musikeinlagen zu einem Mantuaner Schauspiel von 1617 (u.a. von Monteverdi) und einem Oratorium Antonio Bertalis von 1661 zusammengesetzte Programm changierte – der besungenen Figur „La Maddalena“ entsprechend – zwischen bußfertiger Andacht und sinnlicher Verlockung. Leider entwickelte sich trotz großer Besetzung kein wirklich raumgreifender Klang und Bertalis Werk vermochte nur stellenweise zu fesseln. Dass dieses zu einer Wiener Spezialgattung names „Sepolcro“ gehört, erfuhr man aus dem Programmtext des musikalischen Leiters Nicolas Achten nicht, dafür aber aus der Einführung von Katelijne Schiltz, einem von mehreren Vorträgen, die das Festival in schöner Kooperation mit der Universität Regensburg anbot.
Fest in spanischer Hand war heuer der historische Reichssaal. La Grande Chapelle präsentierte dort unter Albert Recasens ein instrumental wie vokal gleichermaßen ausgefeiltes Programm mit Werken von Juan Hidalgo, die Sopranistin Raquel Andueza versprühte mit ihrem Ensemble La Galanía sinnlichen, publikumswirksamen Charme.
Vergleichsweise blutleer wirkten dagegen die vom französischen Ensemble Alia Mens interpretierten Bach-Kantaten. Der eröffnende Chor „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“, den die vier Solisten sich wunderbar einander zuseufzten, und intensive Solo-Momente des eingesprungenen Tenors Jeffrey Thompson bildeten dabei die Ausnahme. Zwei Bach’sche Solokantaten hatte außerdem das Zürcher Barockorchester im Programm, wobei die ausgezeichnete Miriam Feuersinger den sich allmählich aufhellenden Spannungsbogen von „Mein Herze schwimmt im Blut“ deutlich besser traf als das zuversichtliche „Ich bin vergnügt in meinem Glücke“. Hohe instrumentale Kompetenz steuerte das Schweizer Kollektiv bei, ohne freilich in den Suiten und Konzerten von Telemann und Heinichen ein Feuerwerk zu entfachen.
Wenn es so etwas wie großes protestantisches Sakral-Kino gibt, dann war ein solches zum Festivalabschluss zu erleben. Roland Wilson hatte aus Werken von Heinrich Schütz und Michael Praetorius eine ausgedehnte Messe zusammengestellt, wie sie zum 100-jährigen Reformationsjubiläum 1617 in Dresden erklungen sein könnte. Das etwas uneinheitliche, mitunter nicht optimal intonierende Sängerensemble der Capella Ducale hatte riesige Textmengen zu verarbeiten, die im beinahe rauschhaften Zusammenklang mit den Bläsern der Musica Fiata, inklusive des grandios dreinfahrenden Großbass-Pommers bisweilen ein wenig untergingen. Unüberhörbar hallte indes das von Schütz mit grandioser Penetranz wiederholte „denn seine Güte währet ewiglich“ nach. Das Schiff der historisch exakt passenden Dreieinigkeitskirche erbebte leicht.