Hauptbild
Vorne ist ein Tisch aufgebaut. Er erinnert an das Gemälde vom letzten Abendmahl. Einige Leute sitzen daran, aber auf der sonst eher industriell-roh gehaltenen Bühne sind auch vereinzelt woanders Leute unterwegs. Über ihnen auf einem Baugerüst leuchten Leuchtstofföhren die wie Buchstaben geformt sind: Innocence.

Über allen prangt, wovon die meisten scheinbar am wenigsten haben: Innocence. (Ensemble, Chorwerk Ruhr, Statisterie) Foto: Karl und Monika Forster

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Feingliedrig brutaler Opernkrimi: Deutsche EA von Kaija Saariahos „Innocence“ in Gelsenkirchen

Vorspann / Teaser

Die Bühne wird in Gelsenkirchen zunächst von einem rechteckigen Kubus dominiert, in dessen Hintergrund übergroß der programmatische Titel der Oper prangt: Innocence – Unschuld. Die Musik jedoch spricht eine andere Sprache. Dunkel dräut es zu Beginn geradezu archetypisch aus tiefsten Tiefen, was suggeriert: Hier gibt es düstere Geheimnisse. Bald entfaltet sich ein faszinierendes Geflecht aus musikalischen Verästelungen, Verstrickungen und illustrativen Passagen. Kaija Saariahos Musik ist gleichzeitig mitfühlend wie aufwühlend, unterstreicht die dramaturgische Spannungskurve. Der Kubus rückt im Laufe des Abends mehr und mehr in den Hintergrund und gibt dem sich Bahn brechenden Drama Raum – bis am Ende alles in einem Höhepunkt kulminiert.

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Das Thema der im Gelsenkirchener Theater im Revier als deutsche Erstaufführung zu sehenden Oper Saariahos ist brandaktuell: Es geht um ein Massaker an einer Schule, dessen Folgen und die Frage: wer ist hier denn nun schuld? Am Ende ist es nur ein kleiner Zufall, der alles ins Wanken bringt und die alles verändernden Fragen stellen lässt: Hätten sich die Ereignisse verhindern lassen? Wer hätte es verhindern können? Und: Wer ist hier wirklich ohne Schuld? Das Szenario verknüpft mehrere Zeit- und Handlungsebenen. Da ist ein Treffen von Opfern eines Schulmassakers, die sich 10 Jahre danach zum Gedenken an die Ereignisse versammeln. Parallel findet eine Hochzeit statt, pikanterweise am gleichen Ort und – da wären wir bei besagtem „Zufall“ – mit einer personalen Schnittmenge. Der Bräutigam ist der Bruder des Attentäters, der das Schulmassaker verübt hat. Auf seiner Hochzeit kellnert die Mutter einer Schülerin, die damals ermordet wurde, weil sie kurzfristig für eine kranke Kollegin einspringt. Die Braut weiß von der Vorgeschichte nichts – was die Spannung noch zusätzlich steigert. 

Zwar plätschert das Stück anfangs zuweilen etwas dahin, wenn sich alle Beteiligten erst mal ausführlichst ihre Befindlichkeiten erzählen, doch am Ende wird deutlich: hier wird die dramaturgische Saat für ein furioses Finale gelegt, dessen Spannung bis zur unausweichlichen Katastrophe immer weiter steigt. Dazu trägt nicht nur die personelle Konstellation bei, auch die Tatsache, dass Saariaho den Opfern eine sehr persönliche Stimme gibt, eröffnet neue Perspektiven. Die kommen in verschiedenen Rollen und jeweils in ihrer Muttersprache zu Wort, mal als Sprechgesang, mal als Gesangsrolle. So bekommen alle ihre auch sprachlich individuelle Stimme, wenn sie von ihren Traumata erzählen, wohingegen alles andere auf Englisch gesungen wird.

Ein sich selbst unterschätzendes Stück

Die von Elisabeth Stöppler inszenierte Umsetzung gelingt in Gelsenkirchen äußerst spannungsvoll. Saariahos Opernkrimi wird mit stetig steigender Anspannung umgesetzt und lädt dazu ein, noch lange hinterher über eine Fülle von Bedeutungsebenen und Details zu sinnieren – etwa über die von Ines Nadler gestaltete Bühne mit dem Kubus. Szenisch und dramaturgisch wird hier das umgesetzt, was durch Saariahos Musik geschildert wird. Die ist zum einen unglaublich sphärisch und feingliedrig, zum anderen aber auch brutal, heftig, markerschütternd. Hier leistet die Neue Philharmonie Westfalen Außerordentliches, die von dem alles koordinierenden Valtteri Rauhalammi bestens zusammengehalten wird. Musik und Drama verbinden sich hier mit einer Intensität, die zuweilen beklemmend wirkt und – unterstützt durch die Inszenierung – die Spannung bis zum Schluss hält. Dann ist die Katze endlich aus dem Sack und vieles erscheint in einem anderen Licht.

Nicht nur das Orchester ist ein großes Plus der Gelsenkirchener Inszenierung, weil es sowohl den feinsten Verästelungen der Musik Saariahos nachspürt als auch deren ungeheure emotionale wie musikalische Wucht offenlegt. Auch das gesamte Ensemble trägt zu dieser unter die Haut gehenden Aufführung bei. Zum einen ist da das exzellente, von Sebastian Breuing einstudierte Chorwerk Ruhr, das das Geschehen wie in einer griechischen Tragödie kommentiert und erst am Ende seine Plätze – und damit seine übergeordnete Perspektive – verlässt. Zum anderen ist da ein Ensemble, in dem alle Rollen durchweg ausgezeichnet besetzt sind, allen voran Khanyiso Gwenxane als Bräutigam, der stimmlich wie schauspielerisch eine großartige, sich stetig steigernde Intensität zeigt, und Erika Hammarberg als tote Schülerin Markéta, die Tochter der Kellnerin, die mit ihrer von finnisch-karelischer Folklore geprägten ungekünstelten Naturstimme die pure Unschuld verkörpert. Neben diesen beiden herausragenden Leistungen des Abends fallen aber auch Hanna Dóra Sturludóttir als Kellnerin Tereza und Margot Genet als Braut neben Katherine Allen als Schwiegermutter, Benedict Nelson als Schwiegervater, Philipp Kranjc als Priester oder Anke Sieloff als Lehrerin neben dem gesamten Ensemble stimmlich wie darstellerisch sehr positiv auf. Weniger überzeugend wirkt nur die von der Komponistin vorgeschriebene Mikrofonierung der Solorollen und des Chores. Die intendierten Soundeffekte entpuppen sich als weitgehend wirkungsloser Zauber, ein Zauber, den das intensive Stück auch Dank der Inszenierung und der ausgezeichneten Ensembleleistung eigentlich nicht nötig hätte.

www.musiktheater-im-revier.de

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!