Ein ungewöhnlicher Festspielauftakt bei den Bregenzer Festspielen: die erst spät, im Jahre 1988 uraufgeführte Oper „Beatrice Cenci“ des verfemten Komponisten Berthold Goldschmidt erklang erstmals in deutscher Sprache und wurde vom Premierenpublikum einhellig gefeiert.
Das japanische Sprichwort, man müsse nur alt werden, dann stelle sich auch der Erfolg ein, hat sich für Berthold Goldschmidt bewahrheitet: Der 1903 Hamburg geborene Schreker-Schüler, in seinen Jugendjahren als Komponist kaum beachtet, erntete mit über 90 Jahren späte Erfolge seiner frühen – und zwangsläufig auch seiner späten – Kompositionen, wie sonst kaum ein Zeitgenosse. Seine bereits 1949 komponierte und 1951 mit dem ersten Preis des British Arts Council prämierte Oper „Beatrice Cenci“ war in ihrer nachromantischen Tonsprache unzeitgemäß. Sie kam erst 1988 in London in konzertanter Form und 1994 in Magdeburg szenisch zur Uraufführung. Der Magdeburger Intendant Max K. Hoffmann hatte als Regisseur die Handlung behutsam in eine zeitenübergreifende Szenenfolge mit Bezügen zu Magdeburger Ausschreitungen der rechten Szene verlagert. Was bei Goldschmidt und seinem Librettisten Martin Ensslin aus zeitbedingten Rücksichten an Grausamkeiten zwischen die Bilder der Oper oder hinter die Szene verlegt worden war – wie die Vergewaltigung der Titelheldin durch deren Vater oder die Hinrichtung von Mutter und Tochter –, das hatte Hoffmann auf die Bühne geholt. Eine weitere Inszenierung in Dortmund blieb hingegen belanglos und oberflächlich.
Vier Jahre vor der Uraufführung hatte mich der Komponist gefragt: „Wie steht es um die Möglichkeit einer Produktion in der englischen Originalfassung in Deutschland? Oder singt man nur bestenfalls italienisch oder französisch? Richtig besetzt, dürfte dieses Werk mit seinen typischen Opernpartien und seinem literarischen Libretto wirkungsvoll und zugkräftig sein.“ (Bertolt Goldschmidt, Schreiben an PPP, 27. 11. 1990)
Alle dann tatsächlich erfolgten Aufführungen, auch eine konzertante in der Berliner Philharmonie unter Lothar Zagrosek, basierend auf der Decca-CD-Einspielung dieses Dirigenten, wählten die englische Originalversion. Die von Berthold Goldschmidt selbst verfertigte, gut singbare und für den Hörer gut verständliche deutsche Fassung erlebte jetzt erst ihre Erstaufführung – im Großen Festspielhaus in Bregenz.
In der Neuinszenierung dominieren die opulenten, farblich wirkungsvollen Kostüme, Haartrachten und Kopfbedeckungen von Katharina Tasch. Gelungen ist das Bühnenbild von Katrin Connan, mit zentraler, konzentrischer Kreisöffnung (wie in Barrie Koskys Inszenierung von Schostakowitschs „Die Nase“), im dritten Akt als Innenansicht eines Turms aus der Froschperspektive (wie in der Uraufführung von Harald Banters „Der blaue Vogel“ in Hagen). In bühnenbreit verfahrenen Schaukästen als Festtafeln häufen sich hinter Glas viel Plastikgold und goldüberzogene Schokoladentaler (wie später auf den Tischen bei der Premierenfeier), aber auch die nackten Leichen der beiden im Auftrag des Vaters ermordeten Söhne werden darin zur Schau gestellt.
Fünf herabhängende Seile dräuen als Mordhilfsinstrumente, werden aber primär als Glockenseile bespielt. Denn in Goldschmidts Partitur dröhnen – wie weiland in Pfitzners „Palestrina“ und in Puccinis „Tosca“ – die Glocken der römischen Kirchen. In der Neuinszenierung der „Beatrice Cenci“ hört der Kardinal – in einer am Anfang des dritten Aktes eingeschobenen, witzig angehauchten Szene – die Einleitung zum Schlussakt der „Tosca“ auf einem alten Grammophon; eine Hinzufügung, die in einem anderen Werk womöglich für Proteste gesorgt hätte, hier aber schmunzelnd zur Kenntnis genommen wurde.
„Es gibt keine absolute Realität“
Johannes Eraths Statement, „Es gibt keine absolute Realität“, findet in seiner Inszenierung deutlichen Niederschlag: Erath vermeidet weitgehend jeden Realitätsbezug. Die im Libretto nicht einmal offen ausgesprochene Vergewaltigung der Tochter durch ihren Vater erfolgt auch hier hinter geschlossenem Vorhang, angedeutet nur durch einen markigen Schrei der Beatrice. Alle Ausschreitungen des Vaters, welche nicht nur seine Familie in Schrecken versetzen, vom Papst jedoch aufgrund reicher finanzieller Gegenleistungen abgesegnet sind, werden nur berichtet oder von Graf selbst prahlend reflektiert. Bestenfalls macht sich der Conte Cenci mal über ein auf dem Boden liegendes Kleid her. Selbst der Auftragsmord der beiden Berufskiller erfolgt in Bregenz mittels optischer Verfremdung: über den von seiner zweiten Frau Lucretia in Opiumschlaf versetzen Grafen wird ein Stuhl geschoben.
Die Partie des Conte Cenci, der sich in Bregenz während seines Selbstbespiegelungsmonologes im silbern glitzernden Dinner Jackett vor einem Standmikrofon á la Elvis Presley geriert, ist offenbar schwerer zu besetzen als die der Titelheldin. Der Komponist berichtete über die „Konzertaufführung 1988“: „Leider mussten wir in letzter Stunde die Rolle des Count Cenci mit einem Bariton besetzen, dessen Stimme eher für Papageno geeignet war, als für den Jago-Charakter dieser Partie. Natürlich leidet der Eindruck der Oper recht beträchtlich.“ (Goldschmidt an PPP, 1. 7. 1990)
Den gebotenen Charakter des Grafen Francesco Cenci trifft Christoph Pohl beachtlich, obgleich auch seine Stimme lyrisch timbriert ist. Trefflich kontrastieren die Frauenstimmen, die schließlich mit Beatrice den Mord am Grafen auslösende Ehefrau Lucretia (imponierend: Dshamilja Kaiser), die Hosenrolle des Sohnes Bernardo (Christina Bock) und die seiner Schwester (Gal James), welche hier als eine Kind gebliebene Kreatur mit einer Kinderpuppe ihrer selbst agiert. Treffliche Charakterdarstellungen des korrupten Klerus bieten Per Bach Nissen als Kardinal Camillo und Michael Laurenz als Priester Orsino, das mit Pistole hantierende, hinterhältige Liebesobjekt der Beatrice, Klangvoll der Prager Philharmonische Chor als geistliche Potentaten und zwischen Abscheu und Mitleid hin und her gerissene Zeugen des Terrors.
Die sich in ruhigem Fluss bewegende, großenteils in Durtonarten angesiedelte Partitur, die nur in den ersten beiden Akten Franz Schreker als Lehrer und großes dramatisches Vorbild nicht verleugnet, entfacht Johannes Debus mit den Wiener Symphonikern als eine vom Komponisten intendierte „Orchesterpalette“. Für Goldschmidts Tonsprache erweist sich der junge Dirigent als ein trefflicher Sachwalter, der weniger den Neutöner Goldschmidt hervorkehrt als dessen instrumentale Bezüge zu Renaissance und Barock. Obendrein ist Debus ein sorgsamer Begleiter der Sänger_innen. Zutreffend hatte der Komponist den Anachronismus seiner Partitur definiert: „Noch wichtiger [als die Wiederaufführung der Oper „Der gewaltige Hahnrei“] wäre für mich eine szenische Uraufführung der ‚klassischen’ Belcanto Oper ‚Beatrice Cenci’ zu erleben, zu der ausgezeichnetes Material bei Boosey and Hawkes bereit liegt.“ (Goldschmidt an PPP, 27. 11. 1990)
Der später erst mit PC gesetzte, zu Lebzeiten des Komponisten damals ausschließlich in dessen Handschrift vorliegende Klavierauszug enthält „detaillierte Hinweise auf die endgültige Instrumentation […]“ (Goldschmidt an PPP, 12. Juli 1990) – was dafür spricht, dass der Schaffensprozess an dieser Oper über die konzertante Uraufführung hin fortgedauert hat.
Nach der szenischen Uraufführung in Magdeburg meinte der Komponist: „Einige größere Bühnen werden sich noch an dieser Partitur die Zähne ausbeißen.“ Bregenz hat seine Zähne nicht verloren, und der 1996 verstorbene Berthold Goldschmidt hätte an der eigenwilligen Festspiel-Umsetzung durchaus Gefallen gefunden.
Die vom Österreichischen Fernsehen live übertragene Produktion soll bei Unitel auf DVD erscheinen.
- Weitere Aufführungen: 22. und 30. Juli 2018