Eröffnungskonzerte großer Festivals haben ihre eigenen Gesetze, vom Kommerz nicht unberührt. Da werden die prunkvollen Schaustücke aus der Vitrine des Repertoires hervorgeholt, ein glanzvolles Solistenkonzert, eine bedeutungsvolle, nicht allzu irritierende Sinfonie, aufpoliert durch die Kunst großer Namen. Auch bei den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern war dies häufig so. Aber diesmal, bei der Eröffnung des neuen Jahrgangs am Freitag in der Wismarer St.-Georgen-Kirche war es anders.
Das Programm ging nicht den bequemen erfolgssicheren Weg, sondern brachte ausschließlich Seltenheiten, nicht unbekannte, aber selten aufgeführte, und schuf so, statt nur festlichen Glanz, ein spannungsvolles musikalisches Erlebnis, das zwar nicht den üblichen frenetischen, aber langanhaltenden dankbaren Beifall erhielt.
Am Anfang sogar die Uraufführung eines Auftragswerkes der Festspiele, immerhin schon zum dritten Mal aus diesem Anlass, die nur sechsminütige Klangstudie „Glockenflügel – Wismar Soundscapes“ der in Berlin lebenden Australierin Catherine Milliken, einst Oboistin im Ensemble Modern, eine nostalgisch-spirituelle Eröffnungsfanfare (Schade, dass es für „Uraufführung“ kein Diminutivum gibt). Zwei Trompeten, zwei Hörner und drei Posaunen (Blechbläser aus der jungen norddeutschen philharmonie) werden in ihrem figurierter werdenden Klangspiel von dem über Tape eingespielten Glockengeläut der drei Wismarer Hauptkirchen aufgehalten, wollen dann fortsetzen, sind aber so beeindruckt, dass sie in den hinteren Teil der Kirche zurückweichen und sich nun selbst zum Glockenhall verführen lassen.
Naturgemäß von anderem Kaliber das Solistenkonzert des Abends, Benjamin Brittens Konzert für Violine und Orchester d-Moll op. 15 (1940), von den großen Stars eher gemieden, denn mit ihm sind auf Anhieb keine Lorbeeren zu gewinnen. Es gilt als spröde und sperrig (Heifetz hielt es für unspielbar). Aber seine Zeit, die Zeit der faschistischen Bedrohung Europas, deren Ausgang damals keineswegs gewiss war, ist die Zeit „wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ (Brecht), keine Zeit des arglosen ursprünglichen Musizierens, des ungehinderten Verströmens musikalischer Emotionen.
Diese Zeit und ihre substanzielle Ungewissheit prägen die Faktur des Konzertes, Distanz haltend und reflektierend; statt unmittelbarer emotionaler Gesten des empörten Protestes, des heftigen Widerstandes, der blinden Hoffnungsgläubigkeit eher dichte und intensive, fast introvertierte gedankliche Arbeit auf der Suche, im Konfliktfeld von Bedrohung, Erschrecken und Angst einerseits und dem entschlossenen Willen zur zerbrechlichen Schönheit des Menschlichen andererseits.
Die norwegische Geigerin Vilde Frang, die diesjährige Preisträgerin in Residence der Festspiele, die keine Parforce-Solistin ist, sondern eher von kammermusikalischer Intensität, hatte den Mut und die künstlerische Ernsthaftigkeit sich – gemeinsam mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter dem finnischen Dirigenten Sakari Oramo – dieser enormen gestalterischen Herausforderung zu stellen. Mit ihrer erhellenden klugen Gestaltungskunst, mit ihrer fraglosen Virtuosität, die stets im Dienst des Ausdrucks stand, mit ihrer seelischen Intimität machte sie aus den im engsten Raum aufeinanderprallenden Konfliktfiguren ein einheitliches Ganzes, das sichtbar machte, dass es bisher unterschätzt wurde. Besonders beeindruckend ihre Behandlung der anspruchsvollen virtuosen Elemente, die sie stets zur Entfaltung fast verstörender Klangcharakteristik nutzte: flirrende und harsche Farben, aufblühende und fahle, energische und verlöschende, verschreckte und standhafte.
Den Abschluss bildete die ebenfalls selten aufgeführte großmächtige Sinfonie Nr. 1 As-Dur op. 55 (1908) von Edward Elgar, ironisch gesprochen: gleichsam noch im viktorianischen Kostüm, hochgeschlossen, in gedeckten Farben, aber üppig und mit heftig wogendem Busen, mit pompöser Emotionalität. Sakari Oramo und das NDR Elbphilharmonie Orchester machten aus ihrer besorgten Trübnis und ihrer sehnsüchtig glosenden Leuchtkraft, aus den vielfach gebrochenen Grautönen ihrer tonartlichen Reibungen, aus ihren emphatischen Aufwallungen ein breites, aber transparentes Klanggemälde von intensiver Expression.