Das Theater Erfurt bleibt sich treu: jede Spielzeit präsentiert es eine Uraufführung oder eine Wiederentdeckung. Diesmal ist es „Sigurd“, ein Werk des Franzosen Ernest Reyer (1823 bis 1909), 1884 in Brüssel uraufgeführt, ein Jahr später an der Pariser Opéra herausgekommen. „Sigurd“ wurde zu einem der größten Triumphe Reyers, allein in Paris stand es bis in die 1930er Jahre auf dem Spielplan und erlebte über 250 Aufführungen.
Im Grunde ist „Sigurd“ eine Nibelungen-Oper ohne Nibelungen. Die Geschichte dreht sich um nicht mehr als eine Handvoll Hauptpersonen. Da ist zunächst Gunther. Der lügt, als er vorgibt, von Worms nach Island gereist zu sein, um Brunehild vom brennenden Felsen aus der Verbannung befreit zu haben. Denn in Wahrheit war es der tapfere Sigurd. Aber diese Schummelei kommt erst viel später ans Tageslicht. Erst einmal gehen Gunther und Brunehild zielgerichtet auf ihre Ehe zu, denn weil der König der Burgunder die Walküre erlöst und mit Hilfe der Geister an den Rhein gezaubert hat, darf er sie auch zur Frau nehmen.
Dies ganz grob der Anfang der Geschichte von „Sigurd“, die in Reyers Original fünf Stunden dauert, für die Deutsche Erstaufführung in Erfurt aber ziemlich eingedampft wurde. Musikalisch macht Reyer ganz auf „Grand Opéra“, in seiner ausgezeichneten Musik gibt es ein bisschen Berlioz, ein bisschen Offenbach, auch ein bisschen Wagner, aber eben ganz viel Reyer – eine sehr inspirierte und inspirierende, farbige und spannungsvolle Partitur.
Erfurts Intendant Guy Montavon führt Regie und bedient sich eines Tricks: er inszeniert „Sigurd“ als Traum, geträumt von Gunthers Schwester Hilda (gleich Kriemhild). Deren Zuhause ist ein Krankenbett, ihr Blick wirkt irre, verworren. Neben ihr sitzt Uta, ihre Pflegerin. Man schreibt offenbar das Jahr 1945, worauf das während der Ouvertüre gezeigte Bild vom durch Bomben zerstörten Worms eindeutig hinweist. Und wenn sich der Vorhang hebt, bevölkern Massen von Trümmerfrauen und –männern Steine klopfend die Szene. Hilda liest derweil den Roman „Sigurd“ - und verliebt sich in diese Figur. Was dann abläuft, ist eigentlich Hildas Fantasmagorie, ein Delirium. Es beginnt eine Reise zurück in die Zeit der Nibelungensage – oder genauer: so, wie man sie sich in einem jener brokatschweren Hollywood-Streifen von vor sechzig, siebzig Jahren vorstellt. Mit Kriegern, Rittern, Schwertern und Schilden, wallenden Gewändern und einer Prise Pyrotechnik. Jeder kleine Junge hätte seine helle Freude an so viel Rüstung, schicken Helmen, spitzen Lanzen.
Aber ist diese Inszenierung mehr als nur ein Opern-„Schinken“? Man darf es bezweifeln, denn die klischee-, wenn nicht kitschhaften Bilder werden nirgends gebrochen, im Gegenteil. Der Priester Odins im fernen Island trägt einen langen Bart, der ebenso wallend weht wie sein schneeweißes Gewand. Sein Zauberhorn sieht aus wie ein Zauberhorn. Brunehild sinkt später in einem güldenen Nachen vom Schnürboden herab und wird erlöst. Ganz am Ende, wenn Sigurd tot ist, fährt sein überlebensgroßes Konterfei als Goldrelief aus der Versenkung – Gipfel eines Spektakels, das wie großes Kino daherkommt und viel fürs Auge bietet. Da läuft die Ausstattungsoper voll auf Hochtouren. Aber fürs Hirn ist wenig dabei. Vor allem erschließt sich nicht der Zusammenhang zwischen der in Bildern dokumentierten Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und der knallbunten Sage aus dem Hohen Norden.
Erfurts „Sigurd“ ist aber ein Triumph für die exzellenten Sängerdarsteller: Marc Heller als Sigurd, Ilia Papandreou als Brunehild, Kartal Karagedik als Gunther, Marisca Mulder als Hilda, Katja Bildt als deren Krankenschwester, daneben Vazgen Ghazaryan, Juri Batukov und Máté Sólyom-Nagy – sie machen ausnahmslos eine sehr gute Figur. Und diesmal auch ganz explizit das Orchester. Joana Mallwitz ist seit Beginn dieser Spielzeit Erfurts Generalmusikdirektorin. Was macht sie aus und mit diesem Klangkörper? Ein feines, sensibles Instrument, präzis wie ein Uhrwerk, dabei immer lebendig, atmend und fähig zu großen, dramatischen Ausbrüchen. Da stimmte nun wirklich alles, auch die Koordination zwischen Graben und Bühne. Wer das Erfurter Orchester über die letzten Jahre hinweg kontinuierlich in der Oper erlebt hat, spürte so etwas wie einen Quantensprung. Kein Wunder, dass Joana Mallwitz am Premierenabend einen besonders aufbrausenden Beifall bekam.
- Weitere Termine: 15. und 28. Februar, 7. und 22. März 2015