Hauptbild
Probenfoto, Foto: Siegfried Duryn
Probenfoto, Foto: Siegfried Duryn
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Flagge, Stasi, Deutschlandlied – Vivaldis „La verità in cimento“ in Leipzig

Publikationsdatum
Body

Das ist kreativer Überdruck und nachlässige Ressourcenverschwendung! Zwei Aufführungen sind viel zu wenig für die in jeder Hinsicht mitreißende letzte Studioproduktion 2016/17 der HMT „Felix Mendelssohn-Bartholdy“. Diese DDR-Apokalypse gehört in Gastspielen unbedingt nach Dresden und Berlin. Michael Höppner macht mit dramatischem Scharfblick die (noch) kaum bekannte Vivaldi-Oper vom türkisch-italienischen zum deutsch-deutschen „dramma per musica“.

Dafür erweist sich die erst seit 2014 als Konzertsaal genutzte Philippuskirche im Leipziger Stadtteil Plagwitz mit dem runden Schiff und Jugendstil-Ausstattung als spannungsvoller Theaterraum, Gebrauchs- und Verfallsspuren spielen mit.

Trotz begeisterter Stimmen auf die CD-Einspielung (Naive Vivaldi Edition 2002) und die  Produktion am Opernhaus Zürich 2015, die das Geschehen in der Schweizer Selbstgefälligkeitsgesellschaft verortete, ist Antonio Vivaldis 13. Oper noch längst nicht im Repertoire angelangt. In der Uraufführung von „La verità in cimento“ („Die Wahrheit auf dem Prüfstand“) am 26. Oktober 1720 am Teatro di S. Angelo in Venedig sang u.a. die legendäre Anna Maria Strada. Das Libretto schrieb Giovanni Palazzi, zu entdecken gilt es ein Werk mit allen Vorzügen Vivaldis und – wie jetzt zum zweiten Mal bewiesen – mit tollem dramatischen Potential:

Mamud, Sultan von Cambaja, hat zwei Söhne. Mutter des Einen ist seine rechtmäßige Gattin Rustena, die des Anderen seine Geliebte Damira. Er hat beide Söhne vertauscht, um die soziale Ungleichheit für Damira wenigstens in der Zukunft auszugleichen. Außer ihm weiß das nur Damira. So wächst Zelim auf im Glauben, er sei der Sohn Damiras, und Melindo hält sich als vermeintlicher Sohn Rustenas für den legitimen Thronerben. Jahre später soll Melindo Rosane von Joghe heiraten, die er liebt. Eskalationen folgt der gute Schluss: Zelim wird – dynastisch legitim – Thronfolger des größeren Teils von Mamuds Reich, indes Melindo im Ausgleich über die Länder Rosanes gebieten wird.

Wahrscheinlich hat Michael Höppner erst auf den Proben das Regiekonzept zur Paraphrase auf das Ende der DDR aus dem erst angedachten Verfall einer DDR-Familie geschärft. Für ihn und das Ensemble von Studierenden ist 1989 Geschichte - und deren Darstellung ohne Anspruch auf lückenlose Klarheit legitim.

In mehrgradigen Metaphern werden das Ende eines Systems, die Schlammschachten im Neubeginn, der Aufbruch ins Ungewisse, die Beisetzung einer Ideologie und der ungewisse Wandel zu dramatischen Momenten, die wohl niemanden im Publikum unberührt ließen.

Michael Höppner rekonstruiert keine Wirklichkeiten, sondern er erfindet sie (wie Verdi das zu seinem musikdramatischen Credo machte): Die Desorientierung der wilden Jahre 1989ff beginnt mit der zombiehaften Widerkehr von Mamuds Familienclan aus dem Mausoleum. Wenige Dekorationselemente von Günter Lemke stützen und ergänzen die szenischen Aussagen, aus einem Guss ist die Personenführung: Irritationen, Wirren, Konflikte, ideologische Grenzgänge, Schizophrenien, letztendlich alle Unsagbarkeiten erhalten treff- und sinnsichere Symbole.

Rosane macht die Confériencieuse: Ellen Leslie stellt ihren amerikanischen Akzent aus, wenn sie eintaucht in die Zeit der Rufe nach „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ vor über 25 Jahren. Das Italienisch des Ensembles ist so topp präpariert, dass man alle Wert- und Ideologiekonflikte klar und deutlich versteht: Nicht „O Dio!“ ist das zentrale Wort, auch nicht „amor“ - sondern „fiero“, also „Grausam!“. Nach vollbrachter Informationsdienstleistung steckt Rosane ihre Skripts ins Strumpfband. Sie trägt zum ergrauenden Brautkleid schwarze Flügel wie ein Todesengel. Doch den Reichtum verheißenden Goldschleier hat sie bis zum Verlöbnis längst verloren. Ihr Melindo mutiert vom Revolutionsstürmer zum keulenschwingenden Barbaren: Der Lack ist ab, die Utopie am Ende – jeder ist hier Täter und Opfer. Am Ende kommen bunte Migranten.

Die Theatermittel fallen aus der Zeit von damals über uns herab: Rosane als Engel mit den zwei Gesichtern der Geschichte – wie bei Ruth Berghaus. Die Spitzen des militarisierten DDR-Establishments – wie bei Heiner Müller. Zelim und Melindo als Valentinus der Ritter und Ursinus der Wilde, die ungleichen Brüder – wie war das mit Christoph Heins „Ritter der Tafelrunde“…?

Das Ensemble wertet nicht, es stellt aus: Folgt Mamuds Kindertausch der Sehnsucht nach Ausgleich oder ist er Attacke auf das System wider besseres Wissen? Mit seiner Gattin Rustena pflegt er den militärisch korrekten Lebensstil im Schatten Iwans: Die Söhne beschenkt er mit dem (Ost-) „Sandmännchen“ und (West-) „Maus“ - der aus der Sendung. Das kann nur schief gehen, wie auch seine laxe Unentschiedenheit zwischen der Soldier Lady Rustena und der elfenhaft-weiblichen Damira. Die beiden Frauen sind wie Feuer und Eis: Rustena stopft eine (Spreewald-)Gurke in eine Bananenschale aus der von Rosane mitgebrachten Aldi-Tüte. Und sie leckt Schweiß, Blut und Tränen von der deutschen Flagge aus dem Mamud-Mausoleum. Diese Flagge aber hat längst ein rundes Riesenloch in der Mitte, wie ein Poncho: Eliminiert sind Hammer, Sichel, Ährenkranz. Und alle Spruchbanner der friedlichen Revolution werden eingemottet.

Der früher systemkonforme Liebhaber Mamud erpresst Damira mit ihrer Stasi-Akte. Sie lernt daraus und macht Lüge zu ihrer Maxime im Daseinskampf. Am Ende entschwindet der Traum von der glücklichen Wiedervereinigung wie eine Fata Morgana: Der verwilderte und verbitterte Melindo steht hier, der weiße Edelkavalier Zelim mit Degen dort. Die offenen Fragen lasten im Kirchenraum.

Historische Legende, Belcanto-Collage, allegorisches Melodram – all das ist dieser bewegende Abend: Absolut sicher sind die sechs Soli und neun Musiker des Kammerensembles der Hochschule in der Bilderflut und im musikalischen Ausdrucksspektrum. Nick Gerngroß verklammert die fünf Streicher und Cembalo mit den Hölzern, die mitten im Spielgeschehen stehen. Alle Arien haben die für die Soli optimale Tempi. Diese glänzen von Anfang bis Ende und zeigen sich von der besten Seite: Koloraturen und Verzierungen kommen mit bewundernswerter Sicherheit, wurden überaus präzise präpariert. Legati und getragene Tempi bleiben immer schlank, auch unter dem größten dramatischen Druck. Nur an ganz wenigen Stellen kommt es am Ende langer Phrasen zu leichten Intonationstrübungen und minimalen vokalen Limits. Das liegt aber nur an Vivaldi und dessen exorbitanten Anforderungen. Dank und Chapeau an Maya Amir (Melindo),  Ellen Leslie (Rosane), Amanda Martikainen (Zelim), Marie Henriette Reinhold (Rustena), Florian Sievers (Mamud) und  Nadiya Zelyankova (Damira).

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!