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Anna Prohaska ANNE. Foto: (c) Ruth Walz
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Fleischwolf als Steinbeißer – „The Rake's Progress“ an der Berliner Staatsoper neu einstudiert

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Die 1951 in Venedig im Rahmen des XIV. Internationalen Festivals für zeitgenössische Musik uraufgeführte und damals zwiespältig aufgenommene Oper von Igor Strawinsky ist zu einem Klassiker geworden. Ob der Komponist vorausahnen konnte, dass das Publikum 64 Jahre später in seinen Kantilenen schwelgen und der Handlung dieser Opera buffa mit merklicher Rührung folgen würde? So bei der vom Publikum umjubelten Neueinstudierung an der Staatsoper im Schillertheater.

Die „Karriere eines Wüstlings“, wie der deutsche Titel der original in englischer Sprache erklingenden, sich stilistisch aufs 18. und frühe 19. Jahrhundert rückbeziehenden Partitur lautet, hat der Regisseur Krzysztof Warlikowski als Gegenwartshandlung mit viel Live-Video im Jahre 2010 aufgetischt. Die Verlagerung der Geschichte mit einem im verfahrbaren, ersten Stockwerk als Kinopublikum kommentierenden Chor und mit einer in diversen Rollen unten und oben agierenden Komparserie, hat bei der Wiederaufnahme nichts an ihrer unmittelbaren Wirkung verloren.

Fragwürdig, weil unnötig Verwirrung stiftend, ohne ableitbare Aussage, bleibt jedoch die Behauptung eines von den Solisten als Schriftsteller Tom Rakewell im Publikum begrüßten Statisten; denn die Gleichsetzung der an den Folgen des Teufelspakts schließlich im Wahnsinn verendenden männlichen Hauptfigur mit der Figur eines hier hinzuerfundenen Autors vermag sich nicht einzulösen – auch wenn alle Handlungsträger, wie in Mozarts „Don Giovanni“, für einen abschließenden Rundgesang zu neuem Leben erwachen und die Moral von der Geschichte anhängen: Müßigkeit im Handeln und Eitelkeit im Denken würden den Teufel auf den Plan rufen.

Bei der Titelfigur des Wüstlings Tom Rakewell stellen sich mehr Parallelen zu Faust und zu Peer Gynt ein als zu Da Pontes Verführer. In der Berliner Inszenierung, mit einem bisexuell agierenden Mephisto, alias Nick Shadow, geht es viel mehr um die Frage weiblicher oder männlicher Bindung des Protagonisten Tom – an die sehr sexy gezeichnete, in Unterwäsche agierende Ann, die dem Geliebten nach London und dann in die USA nachläuft, oder an einen Mann, in der Person der hier von einem Counter gesungenen Mezzopartie der Türkenbab. Aber wenn Ann ihren Tom schließlich im Irrenhaus findet, wo er sich – in goldener ADAC-Folie eingehüllt – für Adonis und sie für Venus hält, hat sie in dieser Inszenierung einen Säugling dabei und ihren Vater Truelove in der Rolle eines Ersatz-Ehemanns.

In der Ausstattung von Małgorzata Szczęśniak wird Nick Shadow zu einem koksenden Andy Warhol, das Leben zur Popkultur. Der hier als Love-Mobil eingeführte, silbrige Wohnwagen hat ja inzwischen durch Frank Castorf auch Einzug in Wagners „Ring“ gehalten. Höhepunkt der Inszenierung bleibt die groteske, mit Popikonen – wie Mickey Mouse, Bunny, Spiderman und Darth Vader – angereicherte Versteigerungsszene, nachdem Tom sich durch die Großfabrikation einer Maschine, die aus Steinen Brot machen soll, zum Weltverbesserer aufschwingen wollte. Aber er war nur einem überaus durchschaubaren Trick Nicks zum Opfer gefallen, einer Fleischmaschine als angeblichem Steinbeißer.

Die hochtrabende Stimmung wird immer wieder geerdet durch den Umbruch in Seccorezitative um. Gleichwohl wird eine der spannendsten Szenen, die finale Abrechnung zwischen Nick und Tom, nur von einem auf der Bühne sichtbaren, verstärkten Cembalo begleitet.

Die vor fünf Jahren von Ingo Metzmacher geleitete Produktion wurde nunmehr von Domingo Hindoyan neu einstudiert. Er leitet das wie bei Mozart-Opern nur halb versenkte Orchester mit zweifachen Bläsern souverän und arbeitet Strawinskys Bezüge zu Monteverdi und Verdi trefflich heraus. Dennoch flammt erst nach der Pause, die hier vor der Schlussszene des 2. Aktes liegt, das Feuer wirklich auf.

Den Tom Rakewell, vor fünf Jahren von Florian Hoffmann kreiert, gestaltet Stephan Rügamer stimmlich schön und kraftvoll als jenen Weichling vom Lande, für den die Bezeichnung „Wüstling“ nur als ironische Namensverdrehung zutrifft. Nick Shadow als sein schattiges Alter Ego verkörpert Gidon Saks als einen, am Jesusbild-Boxersack trainierenden Eventkünstler, in der Finalszene im Paillettenanzug gewandet, auch stimmlich mit einer Paillette von Farben, vom Belcanto bis zur Groteske.

In der Partie der rein liebenden Anne Trulove obsiegt geschmeidig Anna Prohaska, die noch an Stimmgewalt hinzugewonnen hat. Der vollbärtige Transvestit Baba, the Turk, ihre – sie am Ende dann doch unterstützende und leidenschaftlich küssende – Rivalin, ist hinreißend besetzt mit dem Counter Nicolas Zielinsky. Neu ist Ursula Hesse von den Steinen als hexenhaft sexaktive Puffmutter Goose, großartig der Tenor Patrick Vogel als Auktionator Sellem, etwas farblos Jan Martiník als Vater Truelove.

Zwischenapplaus gab es nach Annes Cabaletta, am Ende lautstarke Begeisterung für alle Beteiligten.

  • Weitere Aufführungen: 21., 24. und 29. Mai 2015

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