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musica viva in der Münchener Residenz: Ilya Gringolts ist Solist des Violinkonzerts von Nicolaus Richter de Vroe. Foto: Astrid Ackermann/musica viva
musica viva in der Münchener Residenz: Ilya Gringolts ist Solist des Violinkonzerts von Nicolaus Richter de Vroe. Foto: Astrid Ackermann/musica viva
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Flucht, Furcht, ironisierende Langeweile – Konzert der musica viva in München

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Am Freitag, den 28. Oktober 2022, konnten Liebhaberinnen und Liebhaber Neuer Musik dem letzten Konzert der musica viva in diesem Jahr beiwohnen. Auf dem Programm standen neben Iannis Xenakis‘ „Jalons“, zwei Uraufführungen, „Mit o ptici“ (Die Wiederkehr des Vogels) von Milica Djordjevic, gefolgt von einem Violinkonzert Nicolaus Richter de Vroes. Zu hören waren der Chor und das Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks unter der Leitung von Johannes Kalitzke sowie als Solist für das Violinkonzert, Ilya Gringolts.

Das beginnende „Jalons“ (Meilensteine) ist für eine Besetzung von 15 Instrumenten geschrieben, von hohem Holz über tiefes Blech, dazu Harfe und Streichquintett. Xenakis, dessen architektonisches Vorleben uns vor allem in seinen nüchternen, bis in die mathematische Abstraktion genau berechneten rhythmischen Verhältnisse bekannt ist, geht in „Jalons“ einen anderen Weg: Das Klangbild der Komposition ist geprägt von pulsierenden Klangflächen, die verschiedenen Instrumente setzen sich immer wieder in neuen Kombinationen zusammen. Unterrepräsentiert ist dabei keiner der Solistinnen und Solisten. Wirkt ein Instrument nach längerem Schweigen zunächst weniger wichtig, wird die klangliche Lücke schnell gefüllt. Das Hörerlebnis ist dabei stark geprägt von Klängen wie den brutalen hämmernden Staccati des Kontrafagotts, dem Pfeifen der Piccolo-Flöte oder den mechanischen, dem Rattern eines CD-Laufwerks nachempfundenen Streicher-Tremoli. Alle diese Geräusche werden zu einem ästhetischen Klangerlebnis – vermutlich der schönste Baustellenlärm der Musikgeschichte.

Einen dramatischeren Gestus birgt dagegen „Mit o ptici“. Djordjevic vertont in diesem zirka 25‑minütigem Werk für Chor und Orchester das gleichnamige Versepos des 1986 verstorbenen jugoslawischen Schriftstellers Miroslav Antic. Erzählt wird von einem Mann, der am Strand aus Wasser und Sand einen Vogel formt, diesen Fliegen lässt und mit ihm in einen Dialog tritt. Der Mann erfreut sich an seinem Werk und entlässt ihn in die Freiheit. Später muss er jedoch feststellen, dass der Vogel zu einem Monster wird, das andere Vögel tötet. Von seinem Werk enttäuscht, muss der Mann lernen, das Wesen des Vogels zu akzeptieren. Mit einer gewissen Ironie über die schöpferische Überheblichkeit des Menschen ist der Text von Antic versehen, die man aber in Djordjevic‘ Werk nicht ausmachen kann. Bildgewaltig ist das Stück dennoch: Mit dem Reiben am Paukenfell und dem tonlosen Blasen der Flöte werden das Rauschen von Wind und Wasser imitiert, und so in die Erzählung des Stücks geführt. Die Spannung baut sich über das Zischen der serbischen Worte des Chors schnell auf und erwächst zu einer beängstigenden Musik mit effektvollem Streicherinferno. Fast erschreckend passt Milica Djordjevic ihre Komposition der Spannungskurve des Textes an, gipfelnd in einem abrupten Abbrechen dieses musikalischen Wahnsinns. Eine gewaltige, fast angstverbreitende Musik, die auch durch das Publikum mit Applaus für das Ensemble und die anwesende Komponistin gewürdigt wurde – wie mutig man doch in Deutschland der Neuen Musik begegnet.

Nach einer den Herzschlag auf ein Normalniveau zurückbringenden Pause, bildete das Violinkonzert de Vroes den Abschluss des Abends. Das Orchester besteht neben Solovioline und „klassischem“ Orchester auch aus Klavier, Cembalo, E-Gitarre, Schlagzeug und japanischer Mundorgel Sho. De Vroe fesselt das Publikum zunächst durch ein kräftiges Konzert mit intensivem solistischem Anteil, was nicht zuletzt die herumwehenden losgelösten Haare des Bogens von Solist Ilya Gringolts unter Beweis stellten. Doch die Fesseln sollten sich als zu stark erweisen: Als zu monoton und wenig abwechslungsreich entpuppt sich die scheinbar einsätzige Komposition. Auch die Verwendung der Sho bringt dabei nur wenig ästhetischen Gewinn und wirkt eher wie neumusikalische Tünche. Sie spielt vor allem orgelpunktartige Strukturen, eine Geste, die auch ein Kontrabass in ähnlicher Dramaturgie hervorzubringen vermag. Wenn man von Klassik in der Neuen Musik reden wollte, klänge es gewiss wie das Violinkonzert de Vroes. Zu nüchtern und uninspiriert wirkt es. Der Komponist scheint sich darüber im Klaren zu sein, indem inmitten der Komposition der Pianist auf das Cembalo wechselt und das Orchester beginnt, barocke Zitate zu spielen, gefolgt von einem kleinen Rockkonzert für E-Gitarre und Schlagzeug. Dadurch konnte de Vroe die Aufmerksamkeit zurückgewinnen, den Zuschauern ein Schmunzeln entlocken. Konzeptionell interessanter ist schließlich das ausklingende Ostinato von Solist und Orchester, das darin gipfelt, dass sich der Konzertmeister erhebt, zusammen mit Gringolts durch das Publikum geht und beide den Konzertsaal schließlich verlassen. Dadurch karikiert Nicolaus Richter de Vroe sich selbst – ein Violinkonzert zum Fluchtergreifen.

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