Noch vor dem Eröffnungsfest der Staatsoper im Schiller Theater am 21. September, begann Intendant Jürgen Flimm die Spielzeit mit einem „Vorabend“, der auch so heißt: Christoph Marthalers Produktion für die Wiener Festwochen des Vorjahres, in Koproduktion mit der Berliner Staatsoper, dem Théâtre de la Ville-Paris und dem Festival d’Automne à Paris entstanden, erinnert mit dem Haupttitel an Karl Kraus' „Die letzten Tage der Menschheit“. Hinter dem genialischen Drama einer Zitatensammlung des Wiener Spötters bleibt der vom Schweizer Regisseur gezimmerte Abend deutlich zurück und außen vor.
Wie Karl Kraus, so hat auch Marthaler dokumentarische Texte aus Parlamentssitzungsprotokollen, Politikerreden und der Tagespresse gesammelt und collagiert, aber – im Gegensatz zu Kraus – auch um „fingiert/dokumentarisch[e]“ Texte ergänzt.
Die inszenierten Zitate umfassen ebenso die Ansprache des antisemitischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger, mit der er am 26. Mai 1894 die Sitzung des Hauses der Abgeordneten des Österreichischen Reichstages eröffnete, wie ein Interview aus dem Jahre 2007 oder die Aufbereitung eines parlamentarischen Beitrags einer FPÖ-Abgeordneten in Graz.
Wie das Programmheft in eindrucksvollen Farbfotos dokumentiert, ist diese Inszenierung zum „Vorabend“ des Ersten Weltkrieges für den Originalschauplatz des Reichstages in Wien entstanden. Getreu Brechts Motto, „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch“, schlägt sie den Bogen vom frühen, verbal-radikalen Antisemitismus in Wien zum Holocaust des Zweiten Weltkriegs und hin bis zu ähnlichen, fremdenfeindlichen Tendenzen in der Gegenwart. Musikalisch stützt sich der Abend unter der musikalischen Leitung von Uli Fussenegger dabei auf Kompositionen jüdischer Komponisten aus Tschechien, Polen und Wien, die großenteils dem Nazi-Terror zum Opfer gefallen sind. Den Gepflogenheiten des KZs Theresienstadt folgend, ist die Besetzung der Instrumentalisten „Wienergruppe“ disparat: so erklingen etwa die Sätze aus Streichquartetten von Szyman Laks und Pavel Haas in der Besetzung für Violine, Viola, Klarinette und Akkordeon.
Fragmente aus Kompositionen von Erwin Schulhof, Jòzef Koffler, Alexandre Tansman, Pjotr Leschenkow, Fritz Kreisler, Ernest Bloch und Johann Schrammel werden in der Bearbeitung des musikalischen Leiters ergänzt durch den „Epilog II“ von Bernhard Lang, einem Auftragswerk der Wiener Festwochen. Das zehnköpfige Schauspielerensemble und die Mezzosopranistin Tora Augestad mischen sich trefflich zu einer Vokalgemeinschaft, – wie man es eben aus Marthalers Schauspiel-Inszenierungen kennt. Die chorischen Gesangsdarbietungen werden angereichert durch minimalistische Episoden, – etwa übertriebenes Händeschütteln, Raffen von Plastik-Abdeckfolien, oder ein Sprung von der Brüstung.
Gesanglich besonders eindrucksvoll interpretiert das Ensemble Richard Wagners Siegfried-Idyll , WWV 103, das Fussenegger für Gesang auf Vokale bearbeitet hat, überleitend in Karl Ludwig Traugott Gläsers „Flamme empor“ (1791). Solche Bezüge sind vom Bayreuther „Tristan“-Regisseur selbstredend kritisch gemeint. Nachdrücklich im Ohr bleibt Felix Mendelssohn-Bartholdys a cappella vorgetragener Chorsatz „Wer bis an das Ende beharrt“, aus dem „Elias“, op. 70, mit dem die Reihe der Darsteller den Rang des Auditoriums ins Foyer verlässt; aber im Gegenzug verlassen auch die sechs Instrumentalisten (Michele Marelli, Martin Veszelovicz, Hsin-Huei Huang, Sophie Schafleitner und Julia Purgina), diesen Chorsatz singend, den zum Bühnenraum erklärten Zuschauerraum des Schillertheaters.
Für die Berliner Aufführungen von „Letzte Tage. Ein Vorabend“ wurde eine Tribüne auf der Bühne errichtet (Raum: Duri Bischdoff), und im Auditorium des Schiller Theaters wird gespielt und musiziert. Dabei hat der teils mit Plastik- und Stoffbahnen zugedeckte Zuschauerraum naturgemäß weit weniger Atmosphäre als der klassizistische Bau des Wiener Reichstags. Und der überaus aufwändige Gag, dass eine 10-köpfige chinesische Reisegruppe, ungeachtet aller historisch-politischen Konnotationen, die Breite des Raums mit Blitzlichtern knipsend und videofilmend – gegen Ende des mehr und mehr zum szenischen Konzert reduzierten Abends – durchquert, hat hier wenig Sinn. Die Musikausübung versteht sich als Kollektiv, Einsätze gibt auch die Violaspielerin mit ihrem Bogen oder umgekehrt die Mezzosopranistin der Instrumentalgruppe.
Der pausenlos gut zweieinviertelstündige Abend erntet wohlwollende Lacher für Marthalers Späßchen und Zuspruch für die musikalische Seite der seit dem Vorjahr bestens eingespielten Formation. Etwas gegen diesen Abend zu sagen, hieße ja auch, gegen die „political correctness“ zu verstoßen.
Aber ist dieser „Vorabend“, bei dem der Regisseur am Ende fehlte (eine Untugend, die Marthaler gegenüber Regiekollegen, wie Neuenfels und Castorf, insbesondere in Bayreuth anzukreiden war), nun wirklich ein Beitrag zum Musiktheater, oder nicht doch nur ein weiteres Schauspiel in der Reihe der um Gesangseinlagen nicht verlegenen Marthaler-Abende, und hätte es – ungeachtet des Koproduzenten Staatsoper Berlin – dafür in der deutschen Hauptstadt nicht einen geeigneteren Raum gegeben? „Fragen Sie Professor Flimm“, so der Titel der Kolumne des neuen Magazins der Staatsoper.
- Weitere Aufführungen: 5., 6., 7. September 2014.