In der ehemaligen Tischlerei der Deutschen Oper Berlin, deren Bühne für Experimentelles, war eine – im Fond Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes geförderte – Uraufführung zu erleben: „The Making of Blond“ als Behauptung einer noch in Arbeit befindlichen Partitur als virtueller Anordnung mit einem chipgesteuerten Besucher. Vorgriff auf eine nahe Zukunft der Oper? Peter P. Pachl besuchte die von der Dramaturgin Sabrina Zwach, gemeinsam mit dem Sound- und Mediendesigner Fabian Kühlein unterfütterte Produktion.
Laut Ankündigung der Deutschen Oper Berlin sollten mit der jüngsten Produktion „von den „Theater- und Medienmacher*innen von Chez Company gemeinsam mit Mitgliedern der Ensembles der Deutschen Oper Berlin Rollen-Bilder von Held*innen in der Oper“ hinterfragt und zugleich „diese mit ihrer Lebensrealität“ gekreuzt werden: „So kommen sie zu der Frage, was eine Figur und eine Rolle heute bedeutet für die Konstruktion von Identitäten, wie es Ausdruck ist von Machtverhältnissen und was es über das Verhältnis der Geschlechter besagt – auf, hinter und abseits der Opernbühne.“
Nach Prüfung der Identität des/r Besuchers*in auf Personalausweis, auf der selbst ausgedruckten Eintrittskarte und auf dem tagesaktuellen Antigen-Testnachweis (dies sei hier einmal für künftige Generationen festgehalten), empfängt die/der Besucher*in als Leihgabe einen ferngesteuerten Kopfhörer, mit dem zunächst ebenfalls ein Test erfolgt (Lautstärke), bis dann der Opernabend – wie ein Hörspiel – beginnt.
Die künstliche Intelligenz einer angeblich „noch in Arbeit“ befindlichen Partitur arbeitet mit Sprachausgabe, ist aber nicht für Fremdsprachen ausgelegt und daher mit Fremdwörtern überfordert. Die Stimme heißt den Zuschauer in dem mit Taubennetzschutz überspannten Innenhof der Deutschen Oper Berlin willkommen. Ein sichtbar ausgeführter, klassischer Gongschlag gestattet Einlass in den Saal der ehemaligen Tischlerei, in dem vor C-Zeiten freie Platzwahl herrschte. Diesmal aber sind die auf der einen Längsseite des Raums verteilten Hocker in alle Richtungen jeweils 150 cm vom nächsten Sitzplatz entfernt und obendrein antinumerisch nummeriert. Der Rezensent suchte lange nach der Nummer „3“, bis Dramaturg Sebastian Hanusa persönlich zu Hilfe kam, offenbar mit Röntgenblick durch eine sitzende junge Dame den unrechtmäßig besetzten Hocker neben dem Intendanten als Nummer „3“ erkannte und die Stuhlbesetzerin verscheuchte.
Die Kopfhörer auf den Köpfen des Publikums leuchten in den Farben Blau, Rot und Grün und lenken – in Vorahnung künftiger, allgemeiner Chipsteuerung – die solchermaßen gleichgeschalteten Opernmenschen, geleitet durch die Stimme einer nur wenig opernaffinen Initiatorin. In Julia Hansens Ausstattung verdeckt ein silberner Lamettavorhang vor der einen Querseite des Raumes eine flächenfüllende Videoprojektion. Zeitgeraffte Kamerafahrten durch Flure, den Fundus der Deutschen Oper und in deren Garderoben, mischen sich mit der verwunderten Computerstimme, dass sich die Schuhgrößen-Klassifizierungen im Laufe der Jahrzehnte geändert haben. Dann fährt die Personifikation dieser Stimme („Ich habe heute die Hosen an!“) auf einem Giraffenwagen vor die Projektionsfläche, lässt sich hydraulisch heben und senken und sinniert über blonde Perücken in der Oper. Den veritablen Musikern wirft sie unterschiedlich blond getönte Perücken in Plastikbeuteln zu – aber diese setzen sie nicht auf, sondern hängen sie an ihren Arbeitsbereich: ein auf der anderen Längsseite des Raumes errichtetes Podest für Elektronik, Piano, und manipulierbares Spulen-Tonbandgerät sowie Violine und Schlagzeug. In der Komposition von Thomas Küstner und Sebastian Vogel kommt später auch eine Glasharfe zum Einsatz.
Ein Streichquartett mit Dirigent (! – Maxime Perrin) interpretiert eine schwebend tonale Musik, die marginal Elemente aus Richard Strauss‘ „Salome" integriert. Namhafte Tenöre, zwei an der Zahl (welcher Luxus für eine kleine Produktion!) stehen für das „Blond“ der Oper. Vor Standmikros rezitieren Sprecher der Gruppe Chez Company Fragmente aus Oscar Wildes Salome“, welche allerdings nur sehr partiell in Richard Strauss‘ Vertonung eingeflossen sind. Per Projektion werden historische Dokumente zu früheren „Salome“-Aufführungen an diesem Opernhaus beigesteuert. Die Hauptrolle des Abends gibt, mit zahlreichen Privatismen angehäuft, Gesine Danckwart, die für Inszenierung, Text und Performance [Chez Company] verantwortlich zeichnet. Jörg Schörner singt eine nicht enden wollende, instrumentierte Version von Schumanns „Hör ich das Liedchen klingen“; als Projektion ist dazu eine am Laptop live erfolgende Um- und Nachtextierung zu erleben. Später intoniert der Tenor im schwarzen Paillettenabendkleid einen Monolog, der ebenfalls entfernt mit Herodes und Salome zu tun hat.
Der Kopf der Rezipient*innen, durch die Gesichtsmasken des Mundnasenschutzes und die Kopfhörer extrem eingeengt, soll offenbar das Gefühl des Individualitätsverlustes, der (Chip-)Fremdsteuerung unterstützen, auch wenn es den Zuschauer*innen gestattet ist, während des Abends ein paarmal die Kopfhörer abzusetzen, wie es die Kopfhörer-Träger auf der anderen Seite der geistigen Rampe (und neben mir der Intendant) praktizieren.
Nach dem Abnehmen des Kopfhörers bestätigt sich die stimmliche Identität von Performance-Regisseurin und Computerstimme. Burkhard Ulrich konstatiert, dass ein (blonder?) Wagner-Tenor „ziemlich laut“ singen müsse. Später übt er mit de Performerin den Sitz der unverstärkten Sprechstimme, Burkhard Ulrich rezitiert den Text des ersten Monologes des Mime aus „Siegfried“ – und plötzlich wird den Zuhörenden klar, dass die Produktion „The Making of Blond“ vermutlich in Zusammenhang mit der ursprünglich vorgesehenen, dann aber verschobenen Premiere von Wagners „Siegfried“ ins Programm genommen worden war. Diese Uraufführung, von Danckwart als „Welturaufführung“ apostrophiert, basiert auf einer bereits vor zwei Jahren in Wien, zusammen mit dem Burgtheater realisierten Version „Theblondproject“ – zwar mit weiblichen Protagonistinnen, aber mit denselben Musikern rund um Thomas Küstner und Sebastian Vogel, die stets auch in den Schauspiel-Produktionen von Nicolas Stemann in Erscheinung treten.
Vor der anderen Breitseite bis Raumes, deren Rückwand nun auch als Video-Projektionsfläche dient, senkt sich ein weißer, transparenter Vorhang herab, der gleich darauf abgerissen wird. Das Streichquartett (Elisabeth Glass, Pjotr Prysiaznik, Lothar Welche, Georg Rolther), nunmehr ohne Dirigent, intoniert eine Arie aus Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“, deren Text „Erbarme dich“ ersetzt ist durch ein sich immer wiederholendes „Alles ist schön, so wunderbar schön“, das Burkhard Ulrich, begleitet von Unterwasserbildern eines Oktopus, scheinbar ad infinitum ausführt – bis auf diese Weise selbst die Bachsche Schönheit ausgetrieben erscheint.
In dem vom S. Fischer-Verlag als Autorin vertretenen Text von Gesine Danckwart war zuvor mehrfach ein Avatar beschworen worden. Als der stellt sich nun in mehrfacher Projektion die Abbildung eines putzigen Dalmatiners heraus, dessen animierter Kopf atavistisch die Worte der Danckwart auszusprechen scheint.
Schließlich, nach 75 Minuten (also noch vor der vom Hersteller geforderten Unterbrechung des Tragens der Schutzmasken) fordert die weibliche Stimme die Besucher*innen auf, sich zu erheben und den Aufführungsort durch die Türen ins Freie wieder zu verlassen. Die Aufforderung, tief durchzuatmen, ist jedoch nur machbar, wenn man/frau an der Bar ein Getränk erwirbt, welches man/frau bekanntlich nur mundschutzbefreit zu sich nehmen kann.
Nach vielen fragwürdigen Wortspielereien an diesem Abend liegen folgende Frage und Antwort nahe: DANK? – na, WART‘! Allerdings schränkt das Glas in der Hand die Möglichkeit ein, für die Beteiligten zu klatschen. Gleichwohl ertönt für die Mitwirkenden, die dafür die Fenster des Seitengebäudes öffnen und sich dort verneigen, aus dem Auditorium im Freien intensiver und auch nachhaltiger Applaus.
- Weitere Aufführungen: 9., 10., 11. 12. Juni 2021