Da ist es wieder passiert. Man liest den Namen einer Komponistin und stellt fest: „noch nie gehört“. Das sollte eigentlich in einer Zeit, die reich an fälligen Wiederentdeckungen der Neuen Musik ist, nicht mehr passieren. Und doch fallen immer noch Künstler:innen durch die Raster unserer Aufmerksamkeit oder erreichen nicht unsere Blase. Mit der erfolgten Auseinandersetzung, Dokumentation und Wiederaufführung sollte denn auch unbedingt nachhaltige Arbeit einsetzen, denn mit einem einzelnen Konzert ist niemandem geholfen.
Fragile Flüge – Das Klangforum Wien würdigt die Komponistin Lucia Dlugoszewski
Dazu ist das Klangforum Wien ob seiner Strukturen und innovativen Ideen samt meisterlicher Musiker gottlob in der Lage und willens, solche Eintagsfliegen zu vermeiden, was sich auch bei der Wiederentdeckung des Werks der polnisch-US-amerikanischen Komponistin Lucia Dlugoszewski (1925-2000) zeigt – ein Konzert in der Klangforum-Reihe im Konzerthaus Wien ging Mitte Oktober einher mit einer Doppel-(!)-CD-Veröffentlichung bei collegno und einer Kooperation mit dem Adam Mickiewicz Institut in Polen. Mit insgesamt sieben Werken steht den Wienern nun ein beeindruckendes Repertoire von Dlugoszewski zur Verfügung, das im Konzerthaus interpretatorisch ausgelotet und Werken von drei weiteren Komponistinnen zur Seite gestellt wurde, um Einordnung, aber auch spannenden Kontrast zu ermöglichen.
Dlugoszewski wurde in Detroit geboren, ihre Familie hat polnische Wurzeln. Über ihr Musikstudium schloss sie schnell Kontakt zur New Yorker Künstlerszene und war mit Malern wie Robert Motherwell und John Ashbery befreundet. In den fünfziger Jahren studierte sie sowohl bei Grete Sultan als auch bei Edgar Varèse und John Cage. Sie arbeitete dann eng mit der Erick Hawkins Dance Company zusammen, für die sie Werke schuf – Hawkins wurde ihr Ehemann, und nach seinem Tod führte sie die Company weiter und choreographierte auch selbst.
Die Überstrahlung durch die männlich geprägte Avantgardeszene New Yorks hatte sowohl innere als auch äußere Folgen für ihr Werk. Ästhetisch widersprach Dlugoszewski John Cage, mit dem sie in einer Art offenem künstlerischen Konflikt stand. Das drückte sich weniger in einer Weiterentwicklung oder Antithese aus, sondern vielmehr indem sie eine eigene starke Handschrift entwickelte, die – so kann man es nach dem Eindruck ihrer Musik sagen – überhaupt keine kontextliefernde Lichtgestalten benötigt.
Die äußere Folge dieser Emanzipierung war jedoch die mangelnde Aufmerksamkeit für ihre Kunst, die um so tragischer ist, da sie in ihrem Komponieren Elemente einfließen ließ, mit der sie nicht nur innerhalb der amerikanischen Avantgarde, sondern auch in der europäischen Musikwelt eine tragende Rolle eingenommen hätte. Doch auch wirtschaftliche Gründe wie die Zurückhaltung ihrer Partituren für Verlage außerhalb der Company verhinderten eine frühe Verbreitung ihrer Musik, eine patriarchale Geschichtsschreibung der zeitgenössischen Musik tat ihr Übriges – selbst in Alex Ross „The Rest is Noise“ wird die amerikanische Musikgeschichte der 50er Jahre von Cage und Copland aus betrachtet, Dlugoszewski kommt nicht vor.
Die starke Hinwendung zum Tanz in ihrem Leben drückte Dlugoszewski in vielen choreographisch gedachten Auftragswerken aus, die Raum und Bewegung stark in den Vordergrund stellen. Das bleibt von pulsierenden ersten Werken wie dem auf der CD vertretenen „Openings of the (Eye)“ aus dem Ballett „Ritual of the Decent“ (1952) bis hin zum im Konzert vorgestellten Streichquartett „Disparate Stairway Radical Other“ (1995) eine Konstante und wirkt wie eine Art radikales Lebenselixier ihrer Partituren. Die kinetische Denkweise greift auch auf die Interpreten über, die sich durchweg radikal Grenzen auslotenden und bewusst oft überschreitenden Partituren stellen. Eine andere Konstante bildet die Formung neuer Klangwelten durch ungewöhnliche Instrumentenbehandlung und -erfindung. So werden die Streichinstrumente mit Bürsten, Fingerhüten und Kämmen bearbeitet, bereits in den 50er Jahren konstruierte Dlugoszewski ein „Timbre Piano“ und verschiedene Schlaginstrumente. Ein Trompetensolostück mit sieben verschiedenen Dämpfern erzeugt auch eine visuell erfahrbare choreographische Komponente und beim im Konzert gespielten Ensemblestück „Fire Fragile Flight“ (1973) summieren sich die Techniken zu einem Chaosflug, dessen klangliche Wildheit aber durch collageartige Strukturen organisiert scheint. Eine weitere Auffälligkeit sind ihre enigmatischen Stücktitel, die einen bildhaften Raum kreieren, aber nicht absolut übersetzbar sind. Innerhalb einer hier auch zu erfahrenden Suchness dürfen Metaebenen entstehen und wieder vergehen, kann sprachliche Erklärung auch in Sackgassen führen. Ihre Musik feiert eben nicht nur einen fröhlichen Anarchismus, sondern ist eine bis in kleinste Feinheiten sinnlich ausgeführte Determination.
In dieser Art feinsinnig gaben sich auch die anderen Werke des sehr passend mit „Fliehkräfte“ überschriebenen Konzertabends, der von der taiwanischen Dirigentin Lin Liao sicher geführt wurde: Karen Powers bereits beim Steirischen Musikprotokoll in Graz uraufgeführtes „… if left to soar on winds wings …“ für Ensemble stellte Feldaufnahmen von Natur- und Tierlauten den darauf reagierenden Instrumentalisten sowie einer grafischen Partitur gegenüber, die Ebenen beeinflussten sich wechselseitig stimmungsvoll in der Zeit. Ann Cleare schuf mit „I am not a clockmaker either.“ eine Morton Feldman grüßende, aber kaum liebevoll tönende skulpturale (De-) Konstruktion von Akkordeonklängen: Krassimir Sterev kämpfte an seinem Instrument wacker gegen seine eigene Elektronikstimme. Schließlich präsentierte Anna Korsun mit „Popil“ („Asche“) aus dem Jahr 2022 eine durchaus radikale weitere Ansicht einer Determination, die in sehr geduldigem Hinlegen von Einzelimpulsen bestand, aus der eine Art mild wuchernder Kosmos wuchs und am Ende wieder verseufzte.
Mit der neuen Porträt-CD der Komponistin Lucia Dlugoszewski gelingt eine Erweiterung und Vertiefung des Gehörten: die sieben Stücke zeigen ein breites Ideenspektrum, das von Versenkung in stillen Pulsationen bis zur Drastik von überschäumenden oder sich eben in Fliehkräften überschlagenden Gesten reicht. Mit Konzert und CD wurde auch ein Grundstein gelegt, dass der 100. Geburtstag von Dlugoszewski im Jahr 2025 würdig begangen werden kann – dieser außergewöhnlichen Musik sind viele Aufführungen, Interpreten und Entdecker zu wünschen.
CD-Neuerscheinung
Lucia Dlugoszewski: Abyss and Caress
Abyss and Caress, Fire Fragile Flight, Each Time You Carry Me This Way, Openings of the (Eye), Angels of the Inmost Heaven, Disparate Stairway Radical Other, Avanti
Klangforum Wien, Johannes Kalitzke, Tim Anderson, Peter Evans, Ilan Volkov
2 CD, collegno 2023
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